«Die Wohnqualität hängt nicht von den Quadratmetern ab»

Klimawandel, Bodenverschleiss und steigende Mieten: Die Art und Weise, wie wir heute wohnen, stösst an ihre Grenzen. Das Reduzieren der individuellen Wohnfläche könnte eine Lösung sein, weiss Selina Lutz von der Hochschule Luzern. Die Expertin für neue Wohnkonzepte untersucht, wie Tiny Houses, Mikro-Apartments und Gemeinschaftswohnungen attraktiv und sinnvoll genutzt werden können.

Kleinwohnformen

Wenn das Wohnkonzept stimmt, können auch kleine Wohnungen attraktiv sein (Bild: Messe Karlsruhe/ Jürgen Rösner).

Selina Lutz, auf wie vielen Quadratmetern leben Sie?

Wir leben zu zweit auf rund 60 Quadratmetern Wohnfläche mit einem kleinen Sitzplatz im Garten sowie zusätzlichem Stauraum unter den Dachschrägen, im Estrich und im Keller.

Damit liegen Sie mit Ihrer Wohnung unter dem Schweizer Durchschnitt.

Genau, aber noch nicht im Bereich einer Kleinwohnform wie wir sie im Forschungsprojekt definiert haben. Das wären für einen Zweipersonenhaushalt nämlich nur 45 Quadratmeter. Nebst dem Wohnraum ist zudem vor allem der Stauraum ein wichtiges Kriterium, damit man gut auf kleiner Fläche leben kann. Es ist schon interessant, wie viele Dinge, die man besitzt, die meiste Zeit irgendwo verstaut sind. Sehr viel zur Lebensqualität trägt ausserdem ein Platz im Freien bei, zum Beispiel ein Garten oder ein Balkon.

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Ab wann gilt eine Wohnung als Kleinwohnform?

Eine Kleinwohnform wird im HSLU-Forschungsprojekt unter anderem anhand des Wohnflächenverbrauchs definiert. Je mehr Personen in einem Haushalt leben, desto weniger Fläche steht pro Person zur Verfügung:

• 1 Person bis zu 30 Quadratmeter
• 2 Personen bis zu 45 Quadratmeter
• 3 Personen bis zu 60 Quadratmeter
• 4 Personen bis zu 75 Quadratmeter
• 5 Personen bis zu 90 Quadratmeter

Zu den Kleinwohnformen zählen architektonische Typologien im Einfamilienhaus wie Tiny Houses, Minihäuser, unterschiedliche Mobilheimvarianten wie Wohnwagen oder Hausboote, aber auch Typologien im Mehrfamilienhaus wie Mikro-Appartements oder kollektive Wohnformen wie Wohngemeinschaften
oder Cluster-Wohnungen.

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Gemäss Bundesamt für Statistik beträgt in der Schweiz die durchschnittliche Wohnfläche pro Person zwischen 47 und 51 Quadratmetern. Ist das zu viel, um den architekturräumlichen und soziokulturellen Herausforderungen der heutigen Zeit zu begegnen?

Vereinfacht ausgedrückt: Ja. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen dem Wohnflächenverbrauch und dem Verbrauch von Boden und Ressourcen. Beim genauen Hinschauen ist es jedoch etwas komplizierter. Wer auf kleiner Fläche wohnt, verbraucht nicht automatisch weniger Boden.

Das müssen Sie erklären.

Entscheidend ist nicht per se die Wohnfläche, sondern das Wohnungskonzept. Das einstöckige Tiny House am Waldrand hilft nicht automatisch, die Zersiedelung zu stoppen und den Bodenverbrauch zu minimieren – auch wenn die Wohnfläche insgesamt weniger als 30 Quadratmetern entspricht. Im Gegenteil: In der Masse würden solche Kleinst-Einfamilienhäuser den Infrastrukturkonsum sogar noch weiter beschleunigen. Hier braucht es durchdachte Konzepte, welche die Wohnfläche verringern, gleichzeitig aber auch verdichtetes Wohnen ermöglichen, ohne dabei die Wohnqualität zu vernachlässigen.

«Wer auf kleiner Fläche wohnt, verbraucht nicht automatisch weniger Boden.»

Ist das realistisch?

In der Schweiz wird die Wohnqualität meistens über die Grösse einer Wohnung oder eines Hauses definiert. Das liegt vor allem daran, dass wir es uns gewohnt sind, für fast jedes Bedürfnis ein eigenes Zimmer zu haben: Im Wohnzimmer wird gelesen und ferngesehen, im Schlafzimmer geschlafen, im Esszimmer gegessen. Besonders effizient ist das nicht. Es wäre sinnvoller, den Raum diverser zu nutzen. Eine intelligente Planung von Grundrissen sowie ein Angebot von gemeinsam genutzten Räumen oder hybriden Zimmern, etwa unbeheizte Innenräume oder gedeckte Aussenflächen, bieten Vielfalt und Wohnqualität, ohne übermässig Platz zu verbrauchen.

Wie stark wird die Art und Weise, wie die Menschen wohnen, von der Kultur eines Landes bestimmt?

Kulturelle Aspekte spielen dabei eine grosse Rolle. In vielen Ländern kommen die Menschen mit weniger Wohnraum aus. In Japan beispielsweise nutzt eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern oftmals nicht mehr als 50 Quadratmeter, ein Singlehaushalt sogar weniger als 20 Quadratmeter. Im traditionellen japanischen Haus sind sogenannte neutrale Räume gang und gäbe. Sie werden multifunktional genutzt. Zum Wohnen dienen Sitzkissen auf dem Boden, zum Schlafen wird der Futon aus dem Schrank geholt und danach wieder versorgt. Die kulturellen Begebenheiten sind jedoch nur ein Faktor, wieso bei uns die durchschnittliche Wohnfläche verhältnismässig gross ist.

«In vielen Ländern kommen die Menschen mit weniger Wohnraum aus.»

Was sind weitere Gründe?

Hierzulande ist eine grössere Wohnung für viele ein Statussymbol. Zudem ist in der Schweiz die häufigste Wohnform der Einpersonenhaushalt – etwas mehr als jede dritte Wohnung wird lediglich von einer Person genutzt. Das erhöht tendenziell den Wohnraumbedarf. Hinzu kommt, dass in der Schweiz fast ausschliesslich für den Winter gebaut wird, was enorme bauphysikalische Ansprüche mit sich bringt: Die Menschen erwarten, dass die Wohnqualität im Winter genau gleich hoch ist, wie in den warmen Jahreszeiten, in denen das Leben mehr draussen stattfindet.

Abgesehen von der Grösse der Wohnung: Welche Faktoren beeinflussen unser Wohlbefinden im eigenen Zuhause am meisten?

Unsere Erhebung hat gezeigt, dass insbesondere die natürliche Belichtung und Belüftung des Wohnraums eine wichtige Rolle spielt. Aber auch die Auswahl natürlicher Materialien wie Holz kann viel zum Wohlbefinden beitragen. Bei der Raumgestaltung ist es wichtig, dass die Bewohnerinnen und Bewohner Rückzugsorte haben. Ein Zugang zu Gartenplätzen, zu einer Terrasse oder einem Balkon steigert die Wohnqualität ebenfalls markant. Schon der Ausblick ins Grüne oder in die Ferne kann das Wohlbefinden steigern. Das alles sind Faktoren, die nicht direkt etwas mit der Wohnungsgrösse zu tun haben und Kleinwohnformen attraktiv machen können.

«Hierzulande ist eine grössere Wohnung für viele ein Statussymbol.»

Beim Begriff «Kleinwohnform» denkt man zuerst an die Tiny Houses. Diese nannten Sie als weniger gut geeignetes Beispiel für die Reduktion des Bodenverschleisses. Welche besseren Lösungen gäbe es?

In der medialen Verbreitung sind die Tiny Houses am häufigsten vertreten. Sie verkörpern auch am stärksten die romantische Vorstellung der Kleinwohnform. In der Realität kommen andere Kleinwohnformen allerdings wesentlich häufiger vor: Mikro-Apartments, Cluster-Wohnungen oder das sogenannte Hallenwohnen, bei dem etwa eine Gewerbehalle zum Lebensraum umfunktioniert wird. Was in dieser Diskussion oft vergessen geht: Auch die klassische WG kann eine Kleinwohnform sein – je nach Grösse der Wohnung und Anzahl an WG-Gspändli, die sich den Raum teilen. Diese Art des platzsparenden Wohnens ist heute schon sehr beliebt und funktioniert bestens.

Demnach bräuchte es einfach mehr WGs und das Problem wäre gelöst?

So einfach ist es dann eben doch nicht. Erstens gilt auch eine WG erst ab einer gewissen maximalen Gesamtfläche als Kleinwohnform. Wenn sich zwei Kollegen eine 100-Quadratmeter-Wohnung teilen, ist die Raumersparnis nicht besonders gross.

Genossenschaft Kalkbreite in Zürich
In der Überbauung der Genossenschaft Kalkbreite in Zürich gibt es Cluster-Wohnungen (Bild: Genossenschaft Kalkbreite).

Und zweitens?

Die klassische WG, wie wir sie heute kennen, ist klar auf einzelne Lebensphasen ausgerichtet. Sie wird am häufigsten von jungen Menschen genutzt, die sich beispielsweise in Ausbildung befinden und sich eine eigene Wohnung vielleicht noch nicht leisten können oder wollen. Neue Konzepte wie Cluster-Wohnungen oder auch das Hallenwohnen haben das Potenzial, das Prinzip der Wohngemeinschaft für ein breiteres Publikum attraktiv zu machen.

Wie unterscheiden sich Cluster-Wohnungen von der klassischen WG?

Die Cluster-Wohnung bietet in erster Linie ein höheres Mass an Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten. Im Gegensatz zur WG haben die Bewohnerinnen und Bewohner meistens eigene Wohneinheiten, teilweise auch mit eigenem Bad und kleiner Kochnische. Diese Privatbereiche werden durch grössere gemeinsam genutzte Wohnbereiche mit Gemeinschaftsküche, Aufenthaltsraum etc. ergänzt. Eine Cluster-Wohnung ist somit im Prinzip ein Mix aus WG und eigener Kleinstwohnung.

«Cluster-Wohnungen haben das Potenzial, das Prinzip der WG für ein breiteres Publikum attraktiv zu machen.»

Stösst diese Form des Wohnens auf Anklang?

Wir sind gerade dabei, das zu untersuchen. Cluster-Wohnungen decken zwei wesentliche Bedürfnisse von uns Menschen ab: Einerseits genügend Privatsphäre, andererseits der direkte Anschluss an die Gemeinschaft. Der Mensch ist ein soziales Wesen und auf den Austausch in der Gruppe angewiesen. In einer Cluster-Wohnung kann man – im Vergleich zu den klassischen WGs – besser regulieren, wann der Austausch gewünscht ist, und wann man sich lieber etwas zurückzieht. Solche Cluster-Wohnungen liegen deshalb im Trend. Zurzeit gibt es in der Schweiz einige Projekte von Genossenschaften, in denen Cluster-Wohnungen umgesetzt wurden.

Wer wird in Zukunft in solchen Kleinwohnformen wohnen?

Das Ziel sollte es sein, Kleinwohnformen für Menschen in allen Lebensphasen attraktiv zu machen. Vordergründig werden die Hauptzielgruppen wohl Singles oder Paare sein, die ohne Kinder in der Wohnung leben. Entscheidend ist vor allem, dass auch im Bereich der Kleinwohnformen ein möglichst diverses Wohnungsangebot herrscht und die Menschen je nach Lebensform und -situation selbst entscheiden können, wie sie wohnen möchten. Und was wir nicht vergessen dürfen: Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die am Existenzminimum leben und sich keine grosse Wohnung oder gar ein Haus leisten können. Die Erforschung von Kleinwohnformen ist eine Chance, attraktiven Wohnraum für Personen mit kleinem Budget anzubieten.

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Interdisziplinäres Forschungsprojekt

Ein interdisziplinäres Team bestehend aus Forscherinnen und Forschern der Departemente Technik & Architektur, Soziale Arbeit und Wirtschaft der Hochschule Luzern untersucht das Potenzial und die Umsetzung von Kleinwohnformen. Das Projekt wird von Innosuisse, der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung, von diversen Wirtschaftspartnerinnen und -partnern sowie vom Interdisziplinären Themencluster «Raum & Gesellschaft» (ITC) der HSLU als eines von verschiedenen Projekten zum Thema «Wohnen & Nachhaltigkeit» unterstützt.

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