Zuerst benötigt man eine Lesebrille, das Auge wird lichtempfindlicher, man ist schneller geblendet. Nachts im Regen wird Autofahren anstrengend, zum Lesen hingegen braucht man helleres Licht. Dann sieht man alles etwas unscharf und verschwommen, als ob ein Nebel sich über die gesamte Welt legt. Diese Symptome deuten auf den «Grauen Star» hin. So heisst die altersbedingte Krankheit im Volksmund, Fachleute nennen sie «Katarakt»: Die Linse im Auge wird trübe und ihre Flexibilität lässt nach. Es ist die am weitesten verbreitete Augenerkrankung; ohne Operation führt sie zur Erblindung. Das Gute daran: Eine Katarakt kann mit heutigen medizinischen Mitteln operiert werden. Dabei wird die eingetrübte Linse durch einen kleinen Schnitt im Auge zerkleinert und abgesaugt. Anschliessend wird eine künstliche Linse als Ersatz implantiert.
Zur Zerkleinerung der Linse stehen heute vor allem zwei Technologien zur Verfügung: Zertrümmerung durch Ultraschall oder Zertrennung mit einem Laser. In beiden Fällen handelt es sich um eine Operation mit einem sehr geringen Komplikationsrisiko. Der Eingriff wird pro Jahr weltweit rund 15 Millionen Mal vorgenommen. Bei etwa einem Zehntel der Eingriffe werden Geräte und Instrumente der Rheintaler Firma Oertli Instrumente AG verwendet. Oertli ist auf die Ultraschall-Methode spezialisiert. «Sie ist effizienter und somit kostengünstiger», sagt Norbert Brill, Entwicklungsleiter bei Oertli. Die Technologie funktionierte zudem auch bei sehr fortgeschrittenem Katarakt.
Effizienz spart Geld
Wenn es möglich wird, die Operation effizienter zu gestalten, wird sie einerseits noch sicherer – denn je länger am Auge manipuliert wird, umso höher ist die Gefahr, dass etwas schiefgeht – andererseits auch billiger. Zeit im Operationssaal ist teuer; auf das Jahr gerechnet macht sich eine Verkürzung der Operationsdauer bei einem so häufig durchgeführten Eingriff bemerkbar. Es erhöht aber auch die Zugänglichkeit der Operation in ärmeren Ländern. Und je zugänglicher die Behandlungsmethode, desto weniger Fälle gibt es, in welchen der Graue Star zu Blindheit führt. Deshalb hat sich Oertli mit der Hochschule Luzern zusammengetan, um in einem von Innosuisse unterstützten Projekt zu erforschen, wie sich die Instrumente optimieren lassen.
Bessere Operationsinstrumente erfordern mehr Grundlagenwissen
«Seit 50 Jahren werden Kataraktoperationen mit Hilfe von Ultraschall durchgeführt», sagt Projektleiter Silvio Di Nardo von der Hochschule Luzern. «Erstaunlich ist: Wir wissen sehr wenig darüber, was genau während einer Operation im Auge geschieht.» Wolle man aber die Geräte weiter optimieren, so müsse man wissen, wo ansetzen. Und dafür brauche es ein besseres Verständnis der physikalischen Vorgänge bei der Entfernung der Linse. «Insbesondere die genauen Mechanismen ihrer Zertrümmerung mittels Ultraschalls und das Strömungsverhalten der Augenflüssigkeit beim Absaugen der Linsenfragmente warfen Fragen auf», erklärt Di Nardo.
Bisher hat man versucht, den Antworten aufwändig auf die Spur zu kommen, indem man entsprechende experimentelle Modelle baute und untersuchte. Den Expertinnen und Experten des HSLU-Instituts für Medizintechnik schwebte jedoch vor, dass vor der aufwändigen experimentellen Arbeit die Physik der Katarakt-Operation in numerischen Modellen abgebildet und simuliert wird. Deshalb haben sie mit den Spezialistinnen und Spezialisten der Kompetenzzentren Autonomous Systems and Robotics sowie Fluidmechanik und Numerische Methoden zusammengearbeitet.
Die Physik während einer Katarakt-Operation simulieren
Fluidmechanik beschäftigt sich mit dem Verhalten von Gasen und Flüssigkeiten. Die HSLU-Expertinnen und Experten kommen dann zum Zuge, wenn’s so richtig kompliziert wird. Insbesondere sind sie spezialisiert darauf, Simulationsmodelle zu erstellen, mit deren Hilfe sich auch komplexe Strömungen simulieren lassen – vom Wasserkraftwerk bis – eben – hin zur Augenflüssigkeit während einer Operation.
In diesem Projekt wurden zwei Methoden zur Simulation der Fluidik verwendet, die eine zur Untersuchung des Augeninnendruckes und der Zu- und Abflüsse während der Operation, die andere zur Berechnung der Strömungsverhältnisse im Auge. Die Aussagen beider Modelle wurden immer wieder experimentell überprüft. Aus den Simulationen konnten die Forschenden Vorschläge für optimierte Instrumente ableiten, die eine effizientere Entfernung der Linse ermöglichen.
Die Zertrümmerung der Linse erfolgt mit Hilfe von Ultraschall. Hier waren die Experten des Kompetenzzentrums Autonomous Systems and Robotics gefragt. Sie erstellten Simulationsmodelle, mit denen sich die Ausbreitung des Ultraschalls im Auge untersuchen lässt. Diese Informationen sind sehr wichtig für die Beurteilung der Sicherheit dieses Eingriffes: der Ultraschall soll ja die Linse zertrümmern, dabei jedoch nicht noch weiteres Gewebe schädigen.
Die Forschenden untersuchten zudem in einer Kombination von Simulationen und Experimenten, wie genau die Zertrümmerung der Linse abläuft. In der Wissenschaft gibt es dazu verschiedene Meinungen. Hier konnte Klarheit geschaffen werden: Die Zerkleinerung der trüben Linse erfolgt auf rein mechanische Weise, ganz ähnlich wie ein Presslufthammer funktioniert. Diese Erkenntnis ermöglicht es, die Katarakt-Operation mit noch weniger Ultraschall-Energie durchzuführen.
Was ist ein Simulationsmodell?
Simulationsmodelle sind in der Forschung in zahlreichen Ingenieursbereichen nicht mehr wegzudenken. Sie können berechnen, welchen Einfluss die Veränderung eines einzelnen Parameters auf das Gesamtsystem hat und geben Antwort auf die Frage: «Was wäre wenn…». Wie sehr heizt sich ein Gebäude im Sommer zusätzlich auf, wenn ich die Fenster um zehn, um 15, um 20 Zentimeter grösser mache? Wieviel stärker nützt sich ein Maschinenbestandteil innerhalb eines Jahres ab, wenn man die Bewegung doppelt so schnell ausführt und darüber hinaus ein anderes Material verwendet? Ein Simulationsmodell liefert eine vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit. Umso wichtiger ist es, nicht nur die Fragestellung, sondern auch die entscheidenden Parameter genau zu definieren. Ziel ist jedoch kein statisches Modell, sondern eines, das aufzeigt, welche Auswirkungen Veränderungen auslösen werden. Dafür ist Expertenwissen entscheidend.
Die Erstellung eines Simulationsmodells ist aufwändig. Ist es einmal erstellt, kann es jedoch die Grundlagen für Weiterentwicklungen liefern, die sonst in noch aufwändigeren Tests geschaffen werden müssten.
Und natürlich wird kein Gebäude gebaut und keine Maschine verkauft, die nur auf der Grundlage von Simulationsmodellen hergestellt wurde; der Schritt weg vom Modell wird wiederum von realen Tests begleitet.
Von der Forschung in den Operationssaal
«Ingenieurwissenschaftliche Erkenntnisse sind wichtig. Es stellt sich jedoch immer die Frage, welche klinische Relevanz die Chirurginnen und Chirurgen diesen Erkenntnissen und den daraus resultierenden Innovationen beimessen», sagt Norbert Brill, Forscher bei Oertli Instrumente AG. Auch das wurde im Projekt adressiert: ein Team aus Biologinnen und Biologen hat die Ergebnisse aus dem Projekt in die Sprache und Denkweise der Medizinerinnen und Mediziner übersetzt. In Zusammenarbeit mit Chirurginnen und Chirurgen entwickelte das Forschungsteam einerseits einen umfangreichen Katalog mit Kriterien, welche die Effizienz einer Katarakt-Operation aus Sicht der Anwendenden beschreiben. Und es wurde ein Verfahren entwickelt, mit welchem experimentell eine Entfernung der Linse nachgestellt werden kann. Mit Hilfe dieses Verfahrens können jetzt die tatsächlich erreichten Effizienzsteigerungen von neuen Instrumenten nachgewiesen werden. Ein grosser Schritt, damit die Ergebnisse in der Praxis akzeptiert werden.
Silvio Di Nardo und sein Team haben nun auf Basis der Simulationen Lösungsvorschläge für effizientere und sicherere Instrumente erarbeitet und auch Verfahren entwickelt, wie diese validiert werden können. Der Industriepartner Oertli Instrumente AG hat mit diesen Methoden und Verfahren nun die Möglichkeit, den Einfluss von Produktinnovationen auf die Katarakt-Operation in einem ersten Schritt mit Rechenmodellen abzuschätzen. Dieser neue Zwischenschritt ermöglicht es, viele Innovationsideen frühzeitig zu beurteilen und die vielversprechenden Ideen rascher und kostengünstiger zu realisieren. Ein Innovationsbooster.
Aktuell prüft die Oertli Instrumente AG mehrere Optimierungsvorschläge, die aus dem Projekt entstanden sind. Und rechnet damit, dass diese Innovationen in den nächsten 24 Monaten auf den Markt gebracht werden können.