Eine Frau in weissem Arztkittel steht in einem leeren Raum. Sie trägt eine Art Brille, ein klobiges Gerät, das den ganzen Kopf umspannt. Die rechte Hand formt sie zur Faust, als würde sie etwas greifen. Den Arm bewegt sie scheinbar willkürlich in der Luft. Sie macht einen kleinen Schritt zurück, nickt zufrieden. Dann nimmt sie die Brille vom Kopf.
Die Radiologin ist zurück im realen Trainingsraum am Luzerner Kantonsspital (LUKS). «Virtuell» hat sie gerade anhand eines bestimmten Eingriffs geübt, wie sie sich am besten vor Röntgenstrahlen schützen kann. Denn obwohl Röntgenuntersuchungen aus der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken sind – sie machen etwa Knochenbrüche erkennbar, decken Lungenerkrankungen auf, helfen bei der Früherkennung von Brustkrebs – gehen sie für medizinische Fachpersonen mit einem gewissen gesundheitlichen Risiko einher. Eine Gefahr, die unsichtbar lauert. Denn: Sehen kann man die Strahlung nicht.
Unsichtbar, aber nicht ungefährlich
«Die grösste Herausforderung im Strahlenschutz ist tatsächlich, dass man weder die Strahlung selbst noch die Effektivität des eigenen Schutzverhaltens im Arbeitsalltag wahrnehmen kann», erklärt Dr. phil. Thiago Lima, Leitender Diagnostischer Medizinphysiker am LUKS. Natürlich erhalten Mitarbeitende eine Strahlenschutzausbildung, um berufsbedingte Gesundheitsrisiken so klein wie möglich zu halten. Trotzdem drängt sich die Frage auf: Wie lässt sich diese Ausbildung noch praxisnaher, interaktiver und damit wirksamer gestalten? Wie könnte man sichtbar machen, wovor man sich schützen will?
Training mit Arztkittel und AR-Brille
Eine mögliche Antwort haben Forschende des Luzerner Kantonsspitals, des Departements Informatik der HSLU sowie der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität Luzern gefunden. Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts entwickeln und testen sie Schulungen, die auf Augmented Reality (AR) basieren – also auf Projektion von digitalen Inhalten in die reale Welt.
Tobias Kreienbühl forscht an der HSLU am Immersive Realities Research Lab und in besagtem Projekt an der Seite von Thiago Lima. Für die zu Beginn erwähnte Situation hat er das «virtuelle Pendant» mitentwickelt. Er erklärt: «Sobald sich die Schulungsteilnehmerin die AR-Brille aufsetzt, sieht sie nebst dem realen Raum auch einen virtuellen Röntgenapparat, einen Untersuchungstisch mit einem Patienten und ein Strahlenschutzschild.» Dann wird sie aufgefordert, den virtuellen Schutzschild, sich selbst und einen real anwesenden Assistenten für eine bestimmte Operation so zu platzieren, dass die Strahlenbelastung für alle Anwesenden möglichst klein ist. Was für Aussenstehende also nach willkürlichen Bewegungen aussehen mag, ist in Wirklichkeit mit viel Denkarbeit verbunden.
Alles im blauen Bereich?
Der eigentliche Clou: Auf Knopfdruck zeigt die AR-Brille anschliessend die simulierte Intensität der Strahlung an einer beliebigen Stelle im Raum an. Rot steht für eine hohe, blau für eine niedrige Belastung. Mit Brille kann die Schulungsteilnehmerin also erstmals «sehen», wie stark und wo sie der Strahlung ausgesetzt wäre. Im durchgeführten Fall greift sie in ihrer halb-virtuellen Welt nochmals den Schutzschild und dreht ihn leicht nach rechts. Der Farbverlauf zeigt in Echtzeit die Anpassung: Sie befindet sich jetzt komplett im blauen Bereich.
Ein solches AR-Training mache es möglich, sicher und ortsunabhängig an der eigenen Technik zu feilen, führt Thiago Lima aus. Er ist überzeugt: «Die Methode hat definitiv Potenzial für unsere Strahlenschutztrainings.» Das Forschungsteam will deshalb weitere Erfahrungen aus der Anwendung sammeln und das Projekt weiterverfolgen – und so den Einsatz von AR im Strahlenschutz vorantreiben.