Die gute alte Wasserkraft macht sich fit für das nächste Jahrhundert

Im Jahr 1886 ging im luzernischen Littau das erste Wasserkraftwerk zur Versorgung des Schweizer Wechselstromnetzes in Betrieb. Heute ist die Wasserkraft der Hauptpfeiler der landesweiten Stromversorgung. Damit es so bleibt, muss diese Form der Energiegewinnung kontinuierlich modernisiert werden. Eine Bestandesaufnahme mit HSLU-Experte Ernesto Casartelli.

Wasserkraft Ernesto Casartelli

Ernesto Casartelli, die Schweiz ist das Wasserschloss Europas. Sind Wasserkraftwerke eine Schweizer Erfindung?

Keineswegs. Die Nutzung der Wasserkraft ist eine uralte Kulturtechnik. Denken Sie nur an den Einsatz von Wasserrädern in der Antike. Allerdings hat die Schweiz bei der Entwicklung der Maschinen, mit denen sich aus Wasserkraft Strom gewinnen lässt, eine massgebliche Rolle gespielt. Firmen wie Escher-Wyss, Sulzer und Brown-Boveri/ABB waren führende Hersteller von Turbinen und Generatoren.

Welche Rolle spielt die Wasserkraft für unsere Stromversorgung?

Wie auch in Norwegen oder Österreich hat die Wasserkraft in der Schweiz eine grosse Bedeutung. Sie deckt aktuell rund drei Fünftel des schweizweiten Stromverbrauchs. Das ist immer noch sehr viel, auch wenn der Prozentsatz geringer ist als vor 50 Jahren. Damals gab es noch keine Kernkraftwerke, und die Wasserkraft lieferte praktisch so viel Strom, wie das ganze Land verbrauchte. Seither hat sich der Stromverbrauch der Schweiz verdoppelt. Die Produktion von Strom aus Wasserkraft hat aber nur noch wenig zugelegt. Dafür wurden Kernkraftwerke gebaut. Diese decken zurzeit rund einen Drittel des Strombedarfs. Der Atomstrom wird heute kritisch gesehen, die Wasserkraft aber bleibt ein weitgehend unbestrittener Pfeiler der Schweizer Stromversorgung.

Die Schweiz kann sich also weiterhin auf die Wasserkraft verlassen?

Wasserkraft bleibt wichtig, aber die Energieperspektiven 2050+ des Bundesamts für Energie zeigen, dass das Potenzial der Wasserkraft hierzulande ziemlich ausgeschöpft ist. Laut den offiziellen Erwartungen kann die Wasserkraftproduktion bis ins Jahr 2050 noch etwas gesteigert werden. Das soll durch Erneuerung bestehender und durch den Bau neuer Kleinwasserkraftwerke gelingen. Ins Gewicht fällt überdies die vermehrte Nutzung von Pumpspeichern. Die massgeblichen Produktionszuwächse werden nicht bei der Wasserkraft erfolgen, sondern bei Sonne und Wind. Dieser Trend ist auch weltweit zu beobachten: Nach Einschätzung der Internationalen Energieagentur dürfte die Energieproduktion aus Wind und Sonne jene aus Wasserkraft schon bald übersteigen.

Wenn die Solarenergie so stark ausgebaut wird, ist die Wasserkraft dann irgendwann obsolet?

Keinesfalls – und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sind die Erträge aus Solarstrom in unserem Land auch auf lange Sicht zu gering, um die Wasserkraft zu ersetzen. Zum anderen bekommt die Wasserkraft mit dem Ausbau der Solarenergie und auch der Windenergie eine wichtige neue Rolle: Sie muss dann Strom liefern, wenn zu wenig aus Sonnen- und Windkraftwerken zur Verfügung steht. Diese wetterbedingten Produktionsschwankungen muss sie auffangen und so für die Stabilität der Stromversorgung sorgen. Auch dürften die Pumpspeicherkraftwerke wieder wichtiger werden: Sie können überschüssigen Solar- und Windstrom nutzen, um Wasser in die Stauseen zurückzupumpen und damit diejenige Energie zu speichern, die sonst verlorenginge.

Sie beschäftigen sich an der HSLU mit Pumpturbinen. Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Das ist eine Maschine, die mit einer Turbine für die Stromerzeugung genutzt werden kann, aber auch dazu, das Wasser in den Stausee zurückzupumpen. Die Erfahrungen zeigen, dass Pumpturbinen nicht immer stabil laufen, was zu Problemen im Betrieb führen kann. Wir haben in unserem Labor nach Ursachen und Verbesserungen gesucht und dabei auch Strömungssimulationen herangezogen. Dafür haben wir beispielsweise die Wasserströmungen in der Turbine am Computer simuliert und im Labor experimentell untersucht.

Laufkraftwerke und Speicherkraftwerke

In der Schweiz gibt es sowohl Wasserkraftwerke an Flüssen, bekannt als Laufkraftwerke, als auch bei Stauseen, also Speicherkraftwerke. Laufkraftwerke liefern gut 40 Prozent, Speicherkraftwerke gegen 60 Prozent des Stroms aus Wasserkraft. Beide Typen von Wasserkraftwerken haben ihre Einsatzgebiete und nutzen jeweils andere landschaftliche Gegebenheiten: Die Laufkraftwerke stehen an Flüssen wie dem Rhein oder der Aare. Sie nutzen geringe Höhenunterschiede zur Stromerzeugung, dafür aber grosse Wassermengen. Wie der Name sagt, können sie dauerhaft Strom produzieren, weil praktisch immer Wasser die Flüsse herunterfliesst. Die Speicherkraftwerke in den Alpen hingegen produzieren nur, wenn Strom gebraucht wird. Dann wird die nötige Wassermenge aus dem Stausee – dem Wasserspeicher – bezogen und verstromt. Speicherkraftwerke nutzen kleinere Wassermengen, aber weil sie von einem grossen Höhenunterschied profitieren, ergeben sich trotzdem grosse Strommengen.

Eine spezielle Form der Speicherkraftwerke sind die Pumpspeicherkraftwerke: Sie sind mit Pumpen ausgerüstet, die Wasser nach oben in den Stausee zurückpumpen können. Das wird gern gemacht, wenn billiger Strom zur Verfügung steht. Das Wasser aus dem Stausee kann dann später zur Stromproduktion genutzt werden, wenn der Strom auf dem Markt zu einem hohen Preis verkauft werden kann. Das war für Schweizer Elektrizitätswerke lange Zeit ein sehr lohnendes Geschäft. Heute funktioniert das nicht mehr, weil viel billiger Strom aus Wind- und Solarkraftwerken auf dem Markt ist.

Drei Arten von Turbinen
Zur Erzeugung von Strom aus Wasserkraft werden drei Typen von Turbinen eingesetzt: In Laufkraftwerken sind es in der Regel Turbinen vom Typ Kaplan oder ähnlich. Sie sind darauf ausgelegt, grosse Wassermengen (z.B. des Rheins) bei kleinem Höhenunterschied zu turbinieren. Gerade umgekehrt ist es bei Pelton-Turbinen: Sie nutzen kleine Wassermengen (in Druckröhren) bei grossem Höhenunterschied, kommen also vorzugsweise bei Speicher- und Pumpspeicherkraftwerken zum Einsatz. Dazwischen liegt die Francis-Turbine für mittlere Wassermengen und mittlere Höhenunterschiede.

Die die meisten Wasserkraftwerke sind mittlerweile weit über ein halbes Jahrhundert alt. Zeigen sich Alterserscheinungen?

Der Maschinenpark der Wasserkraftwerke muss selbstverständlich ständig fit gehalten werden. Turbinen, Generatoren und weitere Komponenten müssen revidiert oder ersetzt werden. Wie oft solche sogenannte Retrofit-Massnahmen nötig sind, hängt auch von der Region ab: In Anlagen mit kleinen Speicherbecken enthält das Wasser viel Sediment, und die Abnutzung der Turbinenschaufeln ist daher grösser als beispielsweise in Anlagen mit grösseren Speichervolumina. Auch lokal verdampfendes Wasser, wie man es in Wasserströmen mitunter beobachtet, setzt den Turbinen zu.
Für die Kraftwerkbetreiber ist es wichtig zu wissen, welche Schäden die Sedimente an den Turbinen anrichten, auch deshalb, weil das den Wirkungsgrad der Turbinen vermindert. Die Hochschule Luzern hat dies zusammen mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und den Gommer Kraftwerken in langjährigen Feldversuchen untersucht. Um die Verluste durch abgenutzte Turbinen noch besser abzuschätzen, haben wir im Labor eigens abgenutzte Turbinen im kleinen Massstab nachgebaut und anschliessend für Messungen herangezogen.

Experiment im kleinen Massstab.

Was ist zu tun, um die Wasserkraft zu modernisieren?

Ein Ansatz besteht darin, bei Erneuerungsmassnahmen den Wirkungsgrad der Kraftwerke weiter zu verbessern. Das gelingt zum Beispiel, indem man Turbinen mit neustem Schaufeldesign baut. Eine andere Herausforderung rührt daher, dass Wasserkraftwerke heute flexibler betrieben werden als früher, weil sie häufiger genutzt werden, um das Stromnetz im Gleichgewicht zu halten, also die Stromproduktion auf den Stromverbrauch abzustimmen. Das bewirkt zum Beispiel ein häufiges Stoppen und Neu-Anfahren der Turbinen. Oder es bedeutet, dass Wasserkraftwerke öfter nur einen Teil der technisch möglichen Leistung liefern. Das war zwar früher auch schon so, aber nicht in einer so grossen Bandbreite zwischen Vollbetrieb und sehr geringer Leistung. Die Forschung arbeitet zum Beispiel daran, dass Turbinen auch in Teillast mit hohem Wirkungsgrad arbeiten. Die Digitalisierung leistet zusätzlich einen wichtigen Beitrag zur Betriebsoptimierung und Überwachung.

In der Vergangenheit kämpfte die Wasserkraft gelegentlich mit Imageproblemen. Kann sich diese Energieform wieder als echte ‹grüne› Energie im öffentlichen Bewusstsein verankern?

Sie spielen wohl auf die Situation an, wenn Pumpspeicherkraftwerke Atomstrom nutzen, um Stauseen zu füllen. Diese Praktik rückte die Grosswasserkraft in der Vergangenheit in ein ungünstiges Licht. Wenn jedoch die Kapazitäten zur Produktion von Solarstrom stark ausgebaut werden und die zeitweiligen Überschüsse in Stauseen zwischengespeichert werden, ist das eine Win-win-Situation. Deshalb sehe ich für die Wasserkraft eine zentrale Rolle in einer klimaneutralen Energieversorgung.
Wie jede Energieerzeugung führt auch die Erzeugung von Strom aus Wasserkraft zu einem Eingriff ins Ökosystem. Das ist ein heikles Thema, wie beispielsweise die Diskussion um die Restwassermengen zeigt. Es gibt eine grosse Sensibilität gegenüber diesen Themen, wenn es um den Ausbau oder gar Neubau von Kraftwerken geht. Auch für die Fischwanderung wurden Verbesserungen erzielt. Ich erinnere mich an ein schönes Beispiel in Fribourg. Dort gibt es beim Lac de Pérolles einen Fischlift, der jedes Jahr Tausenden von Forellen und weiteren Fischen die Wanderung über den Staudamm hinweg in beide Richtungen ermöglicht. Solche Beispiele verbessern auch das Ansehen der Wasserkraft.

Neubau der Spitallamm-Mauer beim Grimsel-Stausee, September 2022

Auch Talsperren brauchen Pflege

Auch die über 200 Talsperren in der Schweiz werden älter. «Im Normalfall ist ihre Lebensdauer auf bis zu 100 Jahre ausgelegt», sagt Dieter Müller, HSLU-Experte für Wasserbau. Ein grosser Teil der Talsperren in der Schweiz wurde zwischen 1950 und 1970 gebaut – sie sind also mittlerweile 50 bis 70 Jahre alt. Der Aufwand für den Unterhalt wird mit zunehmendem Alter höher. Es ist also unvermeidbar, dass bis ins Jahr 2050 grosse Ausgaben für Unterhalt und Neubau von Staumauern auf uns zukommen. Genau das geschieht jetzt gerade am Grimselpass: Dort wird eine neue Mauer unmittelbar vor die bestehende 90-jährige Spitallamm-Mauer gebaut. «Was die Kosten betrifft, so sprechen wir je nach Grösse der Anlage von 2 bis 3-stelligen Millionenbeträgen», weiss Müller.

Sicherheit hat höchsten Stellenwert
Der Klimawandel stellt die Wasserkraft vor neue Herausforderungen: Eine betrifft zum Teil die Hochwasserentlastungen der Talsperren, die wegen veränderten Niederschlagsereigniessen ausgebaut werden müssen. Darüber hinaus weist Müller darauf hin, dass Rutschungen von Moränen und Lawinen, die in einem Stausee niedergehen, dort kleine Tsunamis auslösen können.

Und schliesslich zeigt sich noch eine Tücke, die beim Bau der ältesten Staumauern nicht bekannt war: Das Betonquellen. Dabei handelt es sich um eine chemische Reaktion, die spezielle Betonzuschlagstoffe im Zusammenhang mit Wasser zeigen. Das machte die vorzeitige Sanierung einiger Mauern nötig. «Bei neuen Mauern achtet man deshalb darauf, dass die Betonmischung eine spezifische Zusammensetzung hat, bei der dies vermieden werden kann», betont Müller.

Eine permanente Überwachung solcher kritischen Anlagen ist Standard. «Die Eigentümer der Anlagen führen selbst kontinuierlich Kontrollen durch. Alle fünf Jahre gibt es zusätzlich eine externe Kontrolle durch das Bundesamt für Energie BFE», sagt Müller. Um die Sicherheit der Anlagen sei es deshalb in der Schweiz gut bestellt. «Allerdings – ein geringes Risiko gibt es immer. Deshalb braucht es auf jeden Fall auch ein gutes Notfallkonzept.»

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