Christoph Imboden, die Schweiz hat sich ja zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. Warum sind verschiedene Regionen hier so unterschiedlich aufgestellt?
In der Schweiz gibt es über 600 unabhängige Energieversorgungsunternehmen. Das ist vielfach historisch bedingt, entspricht dem Selbständigkeitsgedanken der Gemeinden und berücksichtigt lokale Gegebenheiten. Die Herausforderungen einer auf Tourismus orientierten Bergregion mit lokaler Wasserkraft auf dem Weg zur Klimaneutralität sind nicht dieselben wie die einer städtischen Region mit hohem Verkehrsaufkommen, dichter Überbauung und emissionsintensiver Industrie.
Mit dem Projekt «Energiemodellregionen» will die Hochschule Luzern Regionen auf dem Weg zu einer Energiezukunft ohne CO2-Emissonen unterstützen. Das tut sie ja bereits mit Energieforschung in den verschiedensten Bereichen. Was ist das Spezielle an Ihrem Projekt?
Viele Energieprojekte des Departements Technik & Architektur adressieren sehr spezifische Fragen. Was wir nun mit den «Energiemodellregionen» darüber hinaus anbieten, ist eine Gesamtschau auf eine Region und ihre Energieversorgung, von den Menschen über die Gebäude und Mobilität bis hin zur Industrie. Durch die Ganzheitlichkeit des Ansatzes erhöhen wir die Wirkung und gewinnen an Unterstützung durch die lokale Gesellschaft.
Wie gehen Sie dabei vor?
Ganz konkret gehen wir mit einem Katalog von über 50 Ideen aus der angewandten Forschung der Hochschule Luzern zu interessierten Partnern in der Region – das können Gemeinde, Kantone oder auch Energieversorger sein. Dieser Katalog hat sich als fruchtbarer Denkanstoss erwiesen. Was er nicht liefern kann und soll, sind pfannenfertige Lösungen. Es geht immer darum, die Voraussetzungen ganz genau zu klären und Lösungen anzupassen. So können wir die Regionen dabei unterstützen, einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad zu erreichen.
Die Frage ist also nicht nur, wo eine Staumauer Sinn ergibt oder wo Windräder am effektivsten stehen müssen?
Es geht um viel mehr. Diese Quellen erzeugen Strom. Das ist wichtig für eine Zukunft ohne fossile Energien, und er wird immer wichtiger. Aber mehr Strom zu produzieren, reicht nicht aus. Es geht auch um alternative Energieträger oder darum, wie Energie eingespart oder wie sie verteilt und gespeichert werden kann. Ein Beispiel für Einsparungen: Aufheizen und Abkühlen verursachen bei industriellen Prozessen einen grossen Teil des Energieverbrauchs. Durch eine optimale Verknüpfung von Energieströmen lässt sich hier viel Energie einsparen. Thermische Energiespeicher wiederum können Energie in Form von Wärme vom Tag in die Nacht oder sogar vom Sommer in den Winter verschieben. Auch hierfür haben wir die nötige Expertise an der Hochschule Luzern. Und als letztes Beispiel nochmals zurück zum Strom: auch hier reicht es nicht, ihn klimaneutral zu erzeugen; er muss sinnvoll verteilt und genützt werden. Das bestehende Netz allerdings ist auf eine Energiezufuhr aus zentralen Kraftwerken ausgelegt und nicht auf die unregelmässige Energieproduktion durch Sonne oder Wind, und es ist auch nicht für Elektroautos oder Wärmepumpen in grosser Anzahl ausgelegt.
Welche Probleme entstehen denn daraus für die Stromproduktion?
Zum einen gibt es Zeiten, in denen in der ganzen Region viel Energie verbraucht wird. Die stimmen nicht unbedingt mit denjenigen überein, in denen viel Energie aus erneuerbaren Quellen produziert wird. Wir müssen also nachhaltige und ökonomische Lösungen finden, um auch bei einer Spitzenbelastung diejenigen versorgen können, die den Strom wirklich zu genau diesem Zeitpunkt brauchen.
Was bedeutet dies für unser Stromnetz?
Das Schweizer Stromnetz hat heute in der Regel noch Reserven, kann also die Lastspitzen gut abdecken. Das wird sich aber mit dem weiteren Ausbau von PV, Wärmepumpen und Elektroladestationen ändern, wenn wir keine Lösungen finden, um die Energieflüsse zu steuern. Von Seiten der Energiedienstleister ist hier so genanntes Lastmanagement gefragt, denn Lastspitzen sind für Energiedienstleister wie beispielsweise EWA-energieUri sehr teuer, müssen doch Leitungen und Transformatoren auf diese Spitzen ausgelegt werden. Wir müssen also herausfinden, wie wir die Belastung in solchen Momenten umverteilen können, und wo genau das Netz wirklich verstärkt werden muss.
Wie weiss man denn, wo die Energie gerade nicht benötigt wird?
Für ein verbessertes Lastmanagement muss man zwei Dinge wissen: Wer braucht wann wo wieviel Energie? Und wohin kann zu Zeiten grosser Belastung weniger Energie geliefert werden? Dazu braucht man solide Daten. Nun erheben zwar die Netzbetreiber verschiedene Daten, zumeist aber auf den höheren Spannungsebenen. Unser Team unterstützt deshalb EWA-energieUri dabei, die Auswertung der Verbraucherdaten weiter zu optimieren, um genau diese Frage, wo Energie gerade nicht benötigt wird, präziser zu beantworten. Damit ist EWA-energieUri noch besser für den Umgang mit Strom aus erneuerbaren Energien gewappnet.
Geht es denn bei dem Projekt «Energiemodellregion» nur um Strom?
Nein, das Projekt betrachtet die Energieversorgung einer Region ganzheitlich. Dazu gehört auch die Wärmeversorgung zum Beispiel mit thermischen Nah- und Fernwärmenetzen, oder die Bereitstellung von Energie für den Winter und die Mobilität mit alternativen Energieträgern wie Wasserstoff. Gerade die nachhaltige Wasserstoffproduktion hat ein grosses Potential. Überschüssige Energie aus dem Sommer lässt sich damit gut für den Winter speichern, oder für den Betrieb grosser Lastwagen verwenden. Das erfordert Infrastruktur und Kooperationen, die noch aufzubauen sind. Wir unterstützen EWA-energieUri zum Beispiel dabei, die Abwärme aus der Wasserstoffproduktion optimal zu nutzen, und die Anwendungsbreite von Wasserstoff zu vergrössern. Denn gerade in der Innovationskraft sieht Werner Jauch, Vorsitzender der Geschäftsleitung von EWA-energieUri, einen gewichtigen Treiber nicht nur für den Unternehmenserfolg, sondern auch für eine nachhaltige Energiezukunft.
Sie haben vorher den Energiemarkt erwähnt. Ist es auch eine wirtschaftliche Frage, ob wir das Ziel von Netto-Null CO2-Ausstoss rechtzeitig erreichen?
Da spielen auf jeden Fall ganz verschiedene Faktoren mit, finanzielle durchaus auch – die beste Lösung nützt nichts, wenn die Umsetzung eine Region ruiniert. Es geht aber auch um politische Prozesse; es müssen Bedürfnisse verschiedener Akteure einbezogen werden, von der Fabrikbesitzerin über den Politiker bis hin zur Gesamtbevölkerung. Wir können Regionen dabei unterstützen, Akteure zusammenzubringen, die bisher zu wenig miteinander oder mit Energiefragen zu tun hatten. Dank all dieser verschiedenen Expertisen kann die Hochschule Luzern ihre Rolle als Think Tank der Region noch besser wahrnehmen und so den Weg in eine Schweiz mit Netto-Null C02-Ausstoss beschleunigen.