«Ein merkwürdiger Erdteil, in weisse Tücher gewickelt, rollt die gewundene Treppe eines Hauses hinunter». Immer und immer wieder wiederholt Anna Juniki diesen Satz. Die Gesangsstudentin probt gemeinsam mit ihrem Dozenten Hans-Jürg Rickenbacher Töne, Aussprache und Atmung, damit beim Auftritt in wenigen Tagen alles perfekt sitzt. Ob der erwähnte «Erdteil» für einen konkreten Gegenstand oder ein Gefühl steht, das wusste wohl nur die Künstlerin Meret Oppenheim (1913-1985), von der dieser surrealistische Text stammt. Anna Juniki jedenfalls weiss eines ganz genau: Mit ihrer hellen Sopranstimme möchte sie faszinieren und Bilder im Kopf ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer erzeugen. Sinnigerweise werden diese das Konzert selbst auf den Stufen einer Treppe erleben – während des Festivals «Szenenwechsel» der Hochschule Luzern.
Wie eine Kathedrale
Ein Treppenhaus als Bühne ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch ein lang gehegter Wunsch von Hans-Jürg Rickenbacher. Das Foyer des Hochschulgebäudes mit seinen sechs Stockwerken und den balkonartigen Absätzen würde ihn an eine Kathedrale erinnern, meint der Dozent. «Die Akustik ist fantastisch. Weil es so offen ist, hört man auch aus weiter Entfernung praktisch jeden Ton.» Gemeinsam mit 20 Studierenden hat Rickenbacher das Programm «Balkonszenen grenzenlos» entwickelt: Mit Serenaden, Ständchen und Liebesliedern aus fünf Jahrhunderten wollen die angehenden Gesangsprofis das Publikum von verschiedenen Ecken und Winkeln aus «bezirzen». Sie singen auf Englisch, Spanisch, Deutsch und Französisch, begleitet von Gitarre, Akkordeon, Harfe oder Flöte. Rickenbacher weiss: «Ob im Konzertsaal oder im Treppenhaus, ob laute oder leise Töne, ob einzeln oder im Chor – für jeden Auftritt braucht es Mut.»
Das kann Anna Juniki bestätigen. Die 27-Jährige kam für das Gesangsstudium vor zwei Jahren aus Ungarn nach Luzern und hat nun einen herausfordernden Auftritt vor sich: «Die beiden ‹Oppenheim-Lieder›, die ich singen werde, wurden von unserer Dozentin Katrin Frauchiger komponiert. Diese Stücke sind sehr modern. Die anderen Stücke von Haydn hingegen sind klassisch. Zudem würde man letztere normalerweise mit Klavierbegleitung singen. Entsprechend aufgeregt bin ich.» Doch jede Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen, bringe sie ihrem Traum näher, Sängerin zu werden, so Juniki.
Liebe, Schmerz und Leidenschaft
Das Feuer für die Musik lodert auch in Samantha Herzog: Die 25-jährige Masterstudentin aus St. Gallen trägt fünf Lieder des andalusischen Dramatikers Federico García Lorca (1898-1936) vor – zusammen mit einer Kommilitonin, die gleichzeitig eine enge Freundin ist, an der Gitarre. Dass sie ein eingespieltes Team sind, helfe natürlich bei der Vorbereitung, sagt Herzog. Sie muss sich für ihren Auftritt nicht nur einen fremdsprachigen Text aneignen, sondern vor allem auch eine besondere Ausdrucksstärke: «Die Lieder handeln von grossem Schmerz, Sehnsucht und Liebe. Das Vermitteln dieser Emotionalität, die geradezu herausbrechen will, ist sicher die grösste Herausforderung.» Sie selbst kennt solch’ romantische Szenen wie die meisten auch nur aus der Literatur, dem Theater oder Filmen. «Es ist natürlich wahnsinnig mutig, wenn jemand seine Liebe unter einem Fenster oder einem Balkon stehend vor aller Welt kundtut.»
Der Balkon sei heutzutage aber nicht nur ein etwas altertümlich-klischeehaftes Symbol fürs Umwerben einer angebeteten Person, sagt Dozent Rickenbacher: «Er ist während der Pandemie für viele Menschen ein Ort zur Kontaktaufnahme mit ihrem Umfeld geworden, sicher auch als Alternative zu digitalen Formaten.» Auf solche echten Begegnungen mit ihrem Publikum freuen sich nun alle Studierenden, die beim viertägigen Festival «Szenenwechsel» auftreten – sei es in einem Konzertsaal oder irgendwo im Treppenhaus.