Virtuelle Lebenswelt: Auch in der Sozialen Arbeit Realität

Algorithmen für den Schutz von Kindern, Chatbots beim Sozialamt und Online-Games in der Jugendarbeit: Die Digitalisierung ist Teil der Sozialen Arbeit geworden – das wirft auch Fragen auf. Trotzdem bietet die digitale Transformation mehr Chancen als Gefahren, sagen Expertinnen und Experten der Hochschule Luzern.

Digitalisierung und Soziale Arbeit

Digitale Kommunikationskanäle kommen in verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit zum Einsatz, beispielsweise bei der Beratung von Sozialämtern.

Auf den ersten Blick scheint die Digitalisierung nicht so recht mit der Sozialen Arbeit zusammenzupassen: Zu sehr ist der Arbeitsalltag von Sozialarbeiterinnen, soziokulturellen Animatoren und Sozial-pädagoginnen geprägt von Beziehungsarbeit und persönlichen Kontakten zu den Menschen. Doch dieses Bild ist falsch. «Tatsächlich ist die digitale Transformation in der Sozialen Arbeit ein grosses Thema», weiss Silvia Domeniconi Pfister, Projektleiterin und Dozentin an der Hochschule Luzern. Sie untersucht mit einem interdisziplinären Forschungsprojekt, wie die Sozialen Dienste in der Schweiz bei der digitalen Transformation unterstützt werden können.

Es bestehen Lücken

Anwendungsbereiche für digitale Prozesse und Hilfeleistungen gibt es im Sozialwesen genug. Silvia Domeniconi Pfister hat mit ihrer Vorstudie eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Einen besonders hohen Digitalisierungsbedarf haben die Sozialen Dienste in den Bereichen Kommunikation und Gestaltung der Arbeitsprozesse. «Da unterscheidet sich das Sozialwesen nicht von anderen Branchen», so die Studienautorin. Ein Beispiel dafür ist das Abrechnungswesen mit den Krankenkassen in der Sozialhilfe: «Viele Sozialdienste sind im Austausch mit den Krankenkassen noch immer mit Papier unterwegs, während Privatkundinnen und -kunden mit den Krankenkassen schon längst per App kommunizieren.» Im ganzen administrativen Bereich gäbe es im Sozialwesen noch grosse Digitalisierungslücken.

Virtuelle Lebenswelt ist Realität

Neben dem rein administrativen Anwendungsbereich öffnet die Digitalisierung auch neue Möglichkeiten im Kerngeschäft der Sozialen Arbeit: beim direkten Kontakt mit Menschen – insbesondere mit vulnerablen Gruppen. «Die virtuelle Lebenswelt ist für viele Zielgruppen des Sozialwesens bereits Realität», sagt Lucas Haack. Er ist Dozent für Interaktion und Kommunikation am Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern und Co-Studiengangleiter des neuen Bachelor-Minors und der Weiterbildung CAS Digitalisierung und Soziale Arbeit. Für ihn ist klar: «Das Sozialwesen muss sich mit dieser Realität auseinandersetzen – und zwar besser früher als später.» Gewisse Bereiche innerhalb der Sozialen Arbeit seien denn auch schon recht weit, was beispielsweise die Interaktion mit ihren Klientinnen und Klienten über digitale Kanäle betrifft.

Mehr Menschen teilhaben lassen

So kommt in verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit der Ansatz des «Blended-Counseling» vermehrt zum Einsatz. Dabei werden die klassischen Vor-Ort-Gespräche – beispielsweise auf dem Sozialamt – mit digitalen Kontakten wie Chats, E-Mails oder Videoberatungen verknüpft. Das bietet ergänzende Lösungsansätze für ein uraltes Anliegen der Sozialen Arbeit: Wie können mehr Menschen aus vulnerablen Gruppen erreicht und unterstützt werden? «Mit der Digitalisierung besteht die Chance, den Zugang zu Angeboten der Sozialen Arbeit zu erweitern und für spezifische Zielgruppen noch niederschwelliger zu gestalten», sagt Haack. Für Menschen mit Behinderung oder Personen, die an abgelegenen Orten wohnen, ist der regelmässige Gang zum Sozialdienst mit grossen Hürden und Aufwand verbunden.

Viele Jugendhilfe-Organisationen treten über Online-Games mit den Jugendlichen in Kontakt.

Digitale Kontaktstellen ermöglichen es, dass sich die Sozialdienste intensiver um diese Menschen kümmern können; oder dass Menschen erreicht werden, die sonst nicht an soziokulturellen Angeboten teilnehmen würden, beispielsweise in der Jugendarbeit: Viele Jugendhilfe-Organisationen treten über Online-Games oder Soziale Medien mit den Jugendlichen in Kontakt. Sie versuchen ihre Zielgruppen also dort abzuholen, wo diese sowieso unterwegs sind. Auch in der Sonderpädagogik werden digitale Hilfsmittel eingesetzt, zum Beispiel in der Form von unterstützter Kommunikation. So können interaktive Apps helfen, Kinder mit spezifischen Beeinträchtigungen oder Traumata auf spielerische Art an digitale Kommunikationshilfen heranzuführen.

Jugendliche sind mit digitalen Kommunikationsmitteln gross geworden. Für Jugendhilfe-Organisationen ist es deshalb sinnvoll, mit ihren Zielgruppen auch über Soziale Medien in Kontakt zu treten.

Mit Chatbots Erstkontakte erleichtern

Zum Umgang mit der Digitalisierung gehört auch, sich mit kritischen Fragen auseinanderzusetzen. «Es gibt einige Anwendungsbereiche von digitalen Technologien, bei denen man sich schon fragen muss, ob das zielführend und ethisch vertretbar ist», sagt Isabelle Odermatt, ebenfalls Co-Studiengangleiterin des neuen Bachelor-Minors und des CAS sowie Dozentin für Medienkompetenzen in der Sozialen Arbeit. Sie sagt: «Wenn Chatbots eingesetzt werden, um Sozialhilfebezügerinnen und Sozialhilfebezügern den Erstkontakt mit dem Sozialamt zu erleichtern, ist das sicher sinnvoll.»

Chatbots werden heute testweise aber auch in der psychologischen Betreuung eingesetzt, zum Beispiel bei der Trauerbewältigung. Nach einem Todesfall übernimmt eine künstliche Intelligenz die Verhaltensmuster des Verstorbenen und soll so den Hinterbliebenen bei der Verarbeitung ihres Verlusts helfen. Diese Technologie wird in der Schweiz noch nicht als ausgewiesenes psychologisches Beratungsangebot angewendet. «Es zeigt aber auf, wie weit die Überlegungen zu konkreten Anwendungsbereichen von Künstlicher Intelligenz schon sind», so Odermatt.

«Es gibt einige Anwendungsbereiche, bei denen man sich schon fragen muss, ob das zielführend und ethisch vertretbar ist.»

Isabelle Odermatt, Co-Leiterin Bachelor-Minor und CAS Digitalisierung und Soziale Arbeit

Ein anderer Anwendungsbereich der Digitalisierung, der in Fachkreisen auch kritisch betrachtet wird, kommt aus den USA: In mehreren Bundesstaaten werden Algorithmen eingesetzt, um Kindeswohlgefährdungen frühzeitig zu erkennen. Die Algorithmen werden mit Daten aus unzähligen Missbrauchsfällen gespiesen, um so ein «typisches» Gefährderbild zu kreieren. Dadurch soll im Vorfeld erkannt werden, ob in einer Familie ein besonders grosses Risiko für Missbrauch besteht. Das kann dazu führen, dass Prognosen im Kindesschutz sicherer werden. Aus ethischer Sicht ist das Verfahren aber nicht unproblematisch.

Ethisch vertretbare Lösungen finden

«Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen wir uns in der Pflicht, solche Aspekte der Digitalisierung zu hinterfragen und ethisch vertretbare Lösungen mitzugestalten», sagt Isabelle Odermatt. Schliesslich können digitale Neuerungen dazu führen, dass verletzliche Gruppen noch mehr geschwächt werden – zum Beispiel dann, wenn sie mit einer technologischen Entwicklung nicht klarkommen.

Auch Silvia Domeniconi Pfister kann gewisse Vorbehalte gegenüber der digitalen Transformation im Sozialwesen nachvollziehen: «Die Soziale Arbeit ist in erster Linie Beziehungsarbeit. Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um diese Arbeit in die digitale Welt zu überführen.» Gleichzeitig sei das auch ein Grund, wieso das Sozialwesen in der Schweiz in Sachen Digitalisierung hinterherhinkt. «In der Praxis fehlt teilweise das Know-how, um digitale Strukturen effektiv einzuführen», sagt Domeniconi Pfister. Unter Digitalisierung werde noch häufig verstanden, ein papierloses Büro einzurichten oder einzelne elektronische Kommunikationskanäle aufzusetzen. «Die digitale Transformation wird zu wenig vernetzt gedacht», so die Expertin.

Hier könne eine Hochschule eine wichtige Rolle einnehmen, sind sich alle drei HSLU-Fachpersonen einig: Einerseits kann sie angewandte Forschung betreiben, um solche Herausforderungen fundiert anzugehen und ethische oder datenschutzrechtliche Fragen zu diskutieren, andererseits aber auch das Verständnis für die digitale Transformation schärfen und Impulse geben für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Lucas Haack: «Es ist wichtig, dass die Digitalisierung im Sozialwesen als Chance gesehen wird, um Bestehendes zu ergänzen und weiterzuentwickeln.»

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Forschungsprojekt: Blockchain im Sozialbereich

Digitale Technologien wie Blockchain lösen keine sozialen Probleme, könnten aber die Abläufe in der Sozialhilfe stark vereinfachen. So haben Forschende der Hochschule Luzern und das Sozialamt Zug die Einsatzmöglichkeiten von Blockchain im Sozialbereich untersucht. Sie kamen zum Schluss, dass die Technologie Abläufe in der Sozialhilfe stark vereinfachen könnte. Dafür müssen aber die digitalen Fähigkeiten von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern wie auch Sozialdienst-Mitarbeitenden gefördert werden. Mehr dazu.

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