Karfreitag Morgen: Die Blechlawine rollt langsam auf das Gotthard-Nordportal zu. An der Kasse der Gotthard-Raststätte hört man Dialekte aus verschiedenen Kantonen und Sprachen aus ganz Europa. Derweil stehen in den überfüllten Zügen in Richtung Süden Reisende und Gepäck dicht gedrängt aneinander. Bewegen kann man sich frühestens in Bellinzona wieder. Alle wollen in die gleiche Richtung. Strassen und Schienen sind voll. Gefühlt sind an diesem Morgen nur «Touris» unterwegs. Wie hoch ihr Anteil am gesamtschweizerischen Verkehrsaufkommen aber tatsächlich ist, wusste bis vor kurzem niemand. Und wir wussten auch nicht, wie viele der Reisenden auf unseren Strassen und Schienen aus der Schweiz stammen, wer aus dem Ausland kommt, um hier Ferien zu machen und wer wiederum einfach nur durch die Schweiz hindurch fährt.
Bisher war man daher bei verkehrspolitischen Diskussionen mehr oder weniger im Blindflug unterwegs. Eigentlich wären die Zahlen zum touristischen Verkehr zwar da, doch sie sind fragmentiert. Mal liegen sie beim Bund, mal werden sie durch die Tourismusbranche erhoben. Dem Urner Ständerat Josef Dittli war das ein Dorn im Auge. Mit einem Postulat wollte er das ändern. Der Bundesrat schickte daraufhin HSLU-Forschende rund um Timo Ohnmacht los, um Fakten zu schaffen.

Josef Dittli
Ständerat Kanton UriEin Zahlenpuzzle
Die Forschenden der HSLU setzten diese verschiedenen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen: Sie nahmen Zahlen aus thematischen Erhebungen der Volkszählungen, alpen- und grenzquerenden Erhebungen und Befragungen von Branchenvertretern wie Schweiz Tourismus. Auf kostenpflichtige Zahlen zum Mobilitätsverhalten von beispielsweise Datenbrokern wurde bewusst verzichtet. Denn die Daten sollen frei zugänglich sein und langfristig regelmässig neu erhoben werden.
Zudem mussten sie zuerst definieren, wer überhaupt Teil des touristischen Verkehrs ist. Gemeinsam einigten sich Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Behörden und der Tourismusbranche: Touristischer Verkehr findet ausserhalb des Alltags statt, also z.B. die Ferien im Tessin, das Skiwochenende in Davos oder der Tagesausflug nach Genf. Findet die Aktivität in der Freizeit statt, jedoch als Teil des gewohnten Alltags, ist das Freizeitverkehr. Darunter fällt beispielsweise die wöchentliche Fahrt zum Tennisplatz oder der regelmässige Besuch bei den Grosseltern.
Zurück kam Timo Ohnmacht und sein Team mit einer Berechnungsformel und einer ersten Zahl: 25 %. Das ist der Anteil sämtlicher zurückgelegten Kilometer in der Schweiz, die auf Touristinnen und Touristen aus dem In- und Ausland zurückgehen. Der Berufs- und Einkaufsverkehr und weitere Mobilitätszwecke machen knapp die Hälfte all dieser sogenannten «Personenkilometer» aus. Das übrige Viertel ist Freizeitverkehr der Schweizerinnen und Schweizer. Timo Ohnmacht ordnet ein: «Wenn wir bedenken, dass durch den Tourismusverkehr weite Reisedistanzen entstehen, so ist der hohe Anteil des touristischen Verkehrs nicht weiter verwunderlich.»
Ungleiche Verteilung, ungleiche Wertschöpfung
Eine andere Zahl: 265 Millionen. So viele Reisen beanspruchen jährlich unsere Verkehrsinfrastruktur. Täglich entspricht dies 720’000 Menschen, allerdings verteilen oder konzentrieren sich diese Reisenden sowohl zeitlich als auch geografisch sehr unterschiedlich.
Zurück nach Uri: Hier konzentriert sich besonders viel Durchgangsverkehr, also Reisende welche die Schweiz lediglich durchqueren, um an ihr Ziel zu gelangen. Sie generieren meist nur wenig wirtschaftliche Wertschöpfung. «Die Schweiz ist ein Verkehrshindernis in Europa, das Deutsche und Holländer von der Adria trennt. Freie Sicht aufs Mittelmeer!», sagt Timo Ohnmacht schmunzelnd. Der Durchgangsverkehr durch die Schweiz macht rund 13 % des touristischen Verkehrs aus – also fast 4 % aller zurückgelegten Kilometer in der Schweiz.
Der vermeintliche Hotspot
Der weitaus grössere Anteil des touristischen Verkehrs, nämlich rund 45 %, geht auf die Schweizer Bevölkerung zurück. Fast gleich viele Kilometer werden von Reisenden aus dem Ausland zurückgelegt, welche in der Schweiz Ferien machen. Wer jetzt denkt, dass ein Grossteil der Kilometer auf den Strassen und Schienen in Uri oder Graubünden zurückgelegt werden, der täuscht sich: Spitzenreiter sind gemäss Reisezielen die Regionen Zürich, Bern und Waadtland, gefolgt vom Wallis und der Ostschweiz.
Müssten wir bei der Diskussion rund um die vom Tourismus ausgelösten Verkehrsbelastungen also eher auf den Gubrist blicken als auf den Gotthard? «Nein», meint der Mobilitätsforscher. «In absoluten Zahlen spielt der Gotthard zwar eigentlich nur eine kleine Rolle. Doch die hohe Konzentration von vielen Menschen, die auf wenigen Strassen innerhalb eines kleinen Zeitfensters unterwegs sind, kann eine reale Belastung darstellen; insbesondere für die dort lebende Bevölkerung». In Zürich, wo sich der Verkehr geografisch und zeitlich besser verteilt, werde das weniger stark wahrgenommen.
Bahnreiseland Schweiz – ein Mythos?
Errechnet haben Timo Ohnmacht und sein Team auch, wie die Touristinnen und Touristen in der Schweiz unterwegs sind: Drei Viertel des touristischen Verkehrs wird mit «motorisiertem Individualverkehr» zurückgelegt – also Auto, Motorrad etc. Nur rund ein Viertel der Reisenden nimmt den ÖV.
«Im Verhältnis gesehen ist der Anteil Zugreisender im touristischen Verkehr wirklich klein», sagt Timo Ohnmacht. Der Verkehrssoziologe nennt verschiedene Gründe: Fehlende ÖV-Affinität bei ausländischen Reisenden, eine mühsame Materialschlacht im Wintersport-Tourismus, ein Gotthard-Basistunnel, der für eine Weile nicht wie geplant frequentiert werden konnte oder ein transeuropäisches Schienennetz mit viel Umsteigebeziehungen, das nicht wirklich mit Flügen konkurrieren kann.
Insbesondere kumuliert sich dies beim bereits erwähnten Durchgangsverkehr. Und das sei für einen Ort wie Uri besonders ausschlaggebend: Die ausländischen Touristinnen und Touristen, welche die Schweiz nur durchqueren, nutzen pro 100 Kilometern nur für drei den ÖV. Die restlichen 97 Kilometer werden mit dem Auto zurückgelegt. «Das bringt die örtlichen Belastungen», fasst Timo Ohnmacht zusammen.
Auswirkungen sichtbar machen
Verkehr hat viele Facetten. Daher erfordert auch die Verkehrspolitik eine vielschichtige und differenzierte Diskussion. Mit dem «Ist-Zustand», den die HSLU-Forschenden nun berechnen konnten, kann diese neu geführt werden. Es besteht eine neue Faktengrundlage, welche Behörden und Politik, der Tourismusbranche und nicht zuletzt die Stimmbevölkerung dazu dienen kann, die künftige touristische Verkehrspolitik der Schweiz zu gestalten. Und für Timo Ohnmacht noch viel wichtiger: «Wir können künftig den Erfolg besser messen». Denn alle fünf Jahre, wenn der Bund seine thematischen Erhebungen der Volkszählungen neu durchführt, wird seine Berechnungsformel fortan durch das UVEK neu angewendet. So können die Entwicklungen sichtbar gemacht werden.
Für Timo Ohnmacht ist es genau dieser Impact, welchen ihn bei seiner Arbeit in Forschung und Lehre anspornt: «Als ich sah, dass die Tagesschau über unser Projekt und die Erkenntnisse berichtete, wusste ich: Wir haben’s richtig gemacht!»