Alterspolitik ist mehr als über die AHV zu debattieren

Auf nationaler Ebene erhält Alterspolitik viel Aufmerksamkeit – vor allem, wenn es um Finanzierungsfragen geht. Dabei wird gerne ausgeblendet, wo sich der grösste Teil der alltäglichen Altersarbeit und Alterspolitik überhaupt abspielt: in den Gemeinden. Und da befassen sich die Verantwortlichen mit ganz anderen Fragen.

Alterspolitik

Kerns im Kanton Obwalden ist eine beliebte Wohngemeinde für Familien. Hier, zwischen Landwirtschaftsbetrieben, einer offenen Landschaft und einem Wald, wachsen viele Kinder auf. Viele Kernserinnen und Kernser wohnen aber auch im Alter weiterhin gerne im Dorf. Die demografische Verteilung innerhalb der Gemeinde mit ihren rund 6500 Einwohnerinnen und Einwohnern ist deshalb ausgewogen. Dennoch: «Die Verschiebungen in der Alterspyramide machen auch vor Kerns nicht halt», sagt Roland Bösch, Geschäftsführer der Gemeinde Kerns. Und diese Entwicklung bringt einige Herausforderungen mit sich. «In Kerns existiert zwar ein Altersheim und die ambulante Pflege, aber bis vor Kurzem gab es keine umfassende Alterspolitik», sagt Bösch. Das hat sich nun geändert. Die Obwaldner Gemeinde wirkte beim HSLU-Projekt «Kompass kommunale Alterspolitik» mit und entwickelte dadurch für sich eine zukunftsgerichtete Alterspolitik.

«Es geht um die Gestaltung eines ganzen Lebensabschnitts.»

Roland Bösch

Eine der wichtigsten Erkenntnisse daraus gewann Roland Bösch gleich zu Beginn des Projektes: «Alterspolitik betrifft nicht nur die Altersvorsorge oder die Wohnform, sondern auch die Mobilität, soziale Teilhabe, Betreuung oder das Gesundheitssystem. Es geht um die Gestaltung eines ganzen Lebensabschnitts.» Das heisst, die älteren Bewohnerinnen und Bewohner leben und bewegen sich in der Gemeinde. Sie nehmen an kulturellen Anlässen teil, gehen einkaufen, müssen zur Bank oder engagieren sich in Vereinen. Nicht alle wohnen dabei im Zentrum von Kerns, sondern auch in den zur Gemeinde gehörenden Dörfern St. Niklausen, Melchtal oder Melchsee-Frutt. Es braucht also Parkplätze oder gute Anbindungen an den öffentlichen Verkehr. Viele wohnen noch selbstständig, andere benötigen Betreuung. Es sind breit gefächerte Bedürfnisse, die eine Alterspolitik abdecken muss.

Grosse Herausforderungen für kleine Gemeinden

Eine solche umfassende Alterspolitik betrifft daher verschiedenste Abteilungen einer Gemeindeverwaltung und politische Verantwortlichkeiten. «Während grössere Gemeinden diese Aufgaben an spezialisierte Fachkräfte delegieren, stehen kleine und mittlere Gemeinden mit geringeren personellen oder finanziellen Ressourcen vor grossen Herausforderungen», sagt Prof. Dr. Jürgen Stremlow, verantwortlicher Projektleiter bei der HSLU. Ein «Kompass» soll beim Navigieren durch diesen ‘Dschungel’ der Alterspolitik helfen, so der Soziologe.

Kompass Kommunale Alterspolitik

Expertinnen und Experten aus den Bereichen Soziale Arbeit und Wirtschaft der Hochschule Luzern entwickelten gemeinsam mit Pro Senectute Schweiz, vier kantonalen Pro Senectute Organisationen und fünf Pilotgemeinden ein Tool zur Analyse und Entwicklung der Alterspolitik. Es orientiert sich an gesetzlichen Grundlagen und den durch die WHO definierten Kriterien für «altersgerechte Städte». Beim Kompass wird zunächst die bisherige Alterspolitik der Gemeinde untersucht. Danach werden die demografische Entwicklung analysiert und die Ergebnisse in einem Gemeindeporträt festgehalten. Die Gemeindeverantwortlichen entwickeln daraus anschliessend verschiedene Handlungsfelder. Das Projekt wurde von Innosuisse – Schweizerische Agentur für Innovationsförderung unterstützt

Mit der Bevölkerung zusammen planen

Die Gemeinde Kerns ergriff durch den Kompass gezielt Massnahmen. So beschäftigen sich in einer neu gebildeten Kommission Gemeinderat, Mitglieder der Gemeindeverwaltung und vier Bürgerinnen oder Bürger aktiv mit Gesellschaftsfragen über alle Generationen hinweg. Sie wollen die Gemeinwesenarbeit über alle Alterskategorien hinweg stärken und würdigen.

«Wir wollen, dass die ältere Generation auch weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.»

Roland Bösch

Weiter will die Gemeinde den öffentlichen Raum künftig auch aus der Perspektive älterer Menschen gestalten und neue Formen für das Wohnen im Alter prüfen. Kerns hat ausserdem beschlossen, seine Alterspolitik unter Einbezug der Bevölkerung zu planen und zu steuern. «Wir möchten einen jährlichen Anlass für 60-Jährige organisieren, an dem diese sich mit der Gestaltung ihrer Pensionierung in unserer Gemeinde und einem allfälligen Freiwilligenengagement in verschiedenen Bereichen auseinandersetzen», sagt Roland Bösch. Der Kompass sei für sie ein Werkzeug, das ihnen helfe, die vielfältigen Herausforderungen einer Alterspolitik nicht nur auf dem Radar zu haben, sondern auch anzugehen. Denn: «Wir wollen, dass die ältere Generation auch weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.»

Alterspolitik: Mehr als nur AHV und Rentenalter

Während sich Gemeinden wie Kerns damit beschäftigen, wie die verschiedenen Bedürfnisse abgedeckt und die vorhandenen Ressourcen am besten genutzt werden können, dreht sich auf nationaler Ebene alles um Finanzierungsfragen. So wichtig diese Debatte ist – sie repräsentiert laut Jürgen Stremlow nur einen Bestandteil von Alterspolitik. «Es reicht nicht, über AHV und Rentenalter zu diskutieren», sagt der Soziologe. Oft gehe vergessen, dass Alterspolitik nicht nur auf nationaler Ebene stattfindet, sondern ganz konkret im Alltag der Menschen, an ihrem Wohnort, in den einzelnen Gemeinden. Und genau dort liegt auch ein Grossteil der Verantwortlichkeiten. Mit Gemeinden meint er aber nicht nur die politische Gemeinde, sondern auch «die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger, die unentbehrliche Pflege- und Betreuungsleistungen für ihre (auch älteren) Mitmenschen erbringen.» Jürgen Stremlow ist sich sicher: Eine umfassende Alterspolitik kann das solide Fundament bilden, auf welchem das übergenerationale Mit- und Füreinander fruchtet.

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