Das Wohnungsnot-Dilemma: Mehr Wohnraum allein reicht nicht

Das Thema Wohnungsnot verschwindet nicht aus den Schlagzeilen. Zu wenig diskutiert werde die Verdrängung bestimmter Bevölkerungsschichten aus ihren Wohnungen und Quartieren, so die Wohnforscherin Miriam Meuth. Ein Gespräch darüber, dass mehr neuer Wohnraum das Problem teils sogar verschärfen kann.

Verdrängung

Miriam Meuth, was braucht es, damit ich mich in meinem Zuhause wohlfühle?

Das ist sehr individuell. Dennoch gibt es objektive Kriterien. Ein zentraler Punkt ist die Wohnsicherheit: Ist mein Mietverhältnis gesichert oder muss ich ständig Angst davor haben, dass mir gekündigt wird? Weiter tragen angemessene Platzverhältnisse und Licht zum Wohlbefinden bei. Wichtig ist auch, dass es wenig Lärm sowie keinerlei gesundheitsschädliche Substanzen wie beispielsweise Schimmel gibt.

Wieso wohnen wir, wie und wo wir wohnen?

Unsere Bedürfnisse und Wünsche in Sachen Wohnen sind stark geprägt von der Gesellschaft, in der wir leben. Nehmen wir das Beispiel der Fahrenden: Für sie ist das nomadische Leben Normalität. Hingegen für die hiesige Mehrheitsgesellschaft gilt das Wohnen in einem Wohnwagen als unzureichend – von der Social Media «Van-Life-Romantik» einmal abgesehen. Die Art und Weise, wie wir wohnen, ist zudem milieu- und schichtspezifisch geprägt. Das heisst, unsere Wohn- und Lebensstile sind bedingt durch den sozioökonomischen Status. Wer über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, kann sich beispielsweise Wohneigentum kaufen oder ein Haus bauen. Wer diese Mittel nicht hat, ist froh, überhaupt eine bezahlbare Wohnung zu finden. Von einer eigentlichen Wahlfreiheit kann hier nicht die Rede sein.

«Wohnst du noch oder lebst du schon?», der Slogan des weltbekannten schwedischen Möbelhauses, mutet in diesem Kontext etwas zynisch an.

Genau, vor allem vor dem Hintergrund der Mietzinsbelastung: Haushalte mit einem monatlichen Einkommen von unter 4000 Franken geben rund 35% davon für die Miete aus – eine enorme finanzielle Last. Bei Haushalten mit einem Einkommen von über 12’000 Franken liegt der Anteil bei gerade einmal rund 12%. Solche Werbesujets wie das von Ikea vermitteln eine genormte Vorstellung von Selbstverwirklichung im Wohnen. Dieser Idee zu Grunde liegt ein bürgerliches, mittelschichtsorientierten Wohnverständnis, das Nestwärme verspricht. Der Begriff Wohnen wird dann gleichgesetzt mit «Zuhause», das mit Schutz, Individualität und Entfaltungsmöglichkeiten verbunden wird. Diese Verengung auf einen positiv überhöhten Wohnbegriff deckt sich aber nicht mit der tatsächlichen Lebensrealität vieler Menschen.

Wie sieht diese Lebens- oder auch Wohnrealität denn aus?

Aus der Sozialen Arbeit und der sozialwissenschaftlichen Wohnforschung wissen wir, dass der zum privaten Ort hochstilisierte Wohnraum nicht per se positiv konnotiert ist. Wir sehen das in der Quartierarbeit, der Kinder- und Jugendhilfe oder auch im Sozialhilfe- und Fluchtkontext. Die Wohnbedingungen liegen hier jenseits der Vorstellungen des bürgerlichen, kleinfamiliären-mittelschichtorientierten Wohnens. Im Extremfall geht es um häusliche Gewalt – aber auch «nur» streitende Eltern prägen die Atmosphäre, die in einem Haushalt herrscht. Eine Wohnung kann somit zu einem Ort werden, der Angst macht. Es ist wichtig, dass wir dieser emotionalen und atmosphärischen Dimension des Wohnens Rechnung tragen.

Wie kann das gelingen und wer ist hier in der Verantwortung?

Zunächst geht es darum, gesellschaftlich Abstand zu nehmen von idealisierten und geschönten Vorstellungen des Wohnens. Danach braucht es eine öffentliche Diskussion zu den Themen, die im häuslichen Kontext emotional sehr belastend sind und Wohnen gar unerträglich machen können. Statt Kürzungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen braucht es für bestimmte Personengruppen und für bestimmte Situationen professionelle Unterstützung.

In der Schweiz flaut die Diskussion um die anhaltende Wohnungsknappheit nicht ab. Die Fronten scheinen verhärtet: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die weniger Regulierung fordern, und auf der anderen Seite diejenigen, die mehr Vorgaben des Staates wollen. Was geht aus Ihrer Sicht dabei vergessen?

In der aktuellen Diskussion geht es immer nur um das physisch-materielle des Wohnens, also um das Bauen von Wohnungen und Häusern. Doch Wohnen ist weit mehr als das Dach über dem Kopf. Nebst der erwähnten emotionalen und atmosphärischen Dimension gehören für mich noch drei weitere dazu: die sozialstrukturelle Dimension, die unter anderem beleuchtet, wer in welcher Form und unter welchen Bedingungen zusammenlebt. Die Handlungsdimension beschreibt Alltagspraktiken wie Kochen oder Freundschaften pflegen. Die kulturgeschichtliche und gesellschaftliche Dimension schliesslich verdeutlicht, dass Wohnen immer gesellschaftlich vorstrukturiert ist und zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten auf unterschiedliche Weise stattfindet. Wohnen ist somit das Zusammenspiel aus all diesen Dimensionen, die sich überlagern und auch gegenseitig bedingen. Es muss deshalb interdisziplinär erforscht und behandelt werden.

«Aber man kann nicht nur einfach mehr Wohnraum produzieren, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken»

Miriam Meuth

Braucht es aus Ihrer Sicht denn nicht auch mehr Wohnraum, um das Wohnungsproblem in gewissen Regionen zu lösen?

Sicher, das steht ausser Frage. Aber man kann nicht nur einfach mehr Wohnraum produzieren, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken. Es muss stark auch um Reduktion von Wohnflächenverbrauch pro Kopf gehen und es muss Wohnraum gebaut werden, der bezahlbar ist und somit für diverse Bevölkerungsschichten zur Verfügung steht. Sonst können Neubauten einen Verdrängungsprozess in Gang setzen.

Können Sie Beispiele dafür nennen, wo dies passiert ist?

In unserer qualitativen Verdrängungsstudie «Entmietet und verdrängt» haben wir dies aus Sicht der Betroffenen in der Deutschschweiz hautnah geschildert bekommen. Es gibt zahllose weitere Beispiele, sei dies bei ganzen Siedlungen oder auch nur bei einzelnen Wohnhäusern. Im grossen Stil hat zum Beispiel die Erneuerung der Siedlung Brunaupark in Zürich für negative Schlagzeilen gesorgt.

Wenn wir von Verdrängung sprechen, fällt oft auch der Begriff der Gentrifizierung. Was passiert da genau?

Gentrifizierung bezieht sich im klassischen Sinne auf den Prozess, bei dem Quartiere, die zuvor von einkommensschwachen oder marginalisierten Bevölkerungsgruppen bewohnt wurden, aufgrund von Investitionen, Renovierungen und dem Zuzug wohlhabenderer Bewohnerinnen und Bewohnern verändert werden. Einseitig gedeutet geht es bei Gentrifizierung um eine Aufwertung in sozialer und baulicher Art. Aus einer kritischen sozialwissenschaftlichen Perspektive ist Gentrifizierung jedoch immer Aufwertung und Verdrängung gleichermassen.

Von Verdrängung spricht man, wenn ein Haushalt gezwungen ist auszuziehen und die Bedingungen, die dazu führen, nicht selbst erzeugt oder abgewendet werden können. Dies kann eine direkte Verdrängung sein, wenn etwa der bestehenden Mieterschaft gekündigt oder aus Schikane die Heizung abgestellt wird oder nicht tragbare Mietzinssteigerungen durchgeführt wurden. Eine andere Form von Verdrängung ist die Ausschliessende. Das heisst, dass sich ein strukturell gleicher Haushalt die neu vermietete Wohnung nicht mehr leisten kann. Eine dritte Form ist der Verdrängungsdruck, der entsteht, da sich das Viertel verändert, andere Menschen dort leben und bestehende Netzwerke verloren gehen.

Bei Gentrifizierung denken wir in erster Linie an städtische Quartiere. Gibt es diese Verdrängungseffekte auch auf dem Land?

Benannt wurden solche Verdrängungsprozesse erstmals in den 1960er-Jahren für Städte in England. Von daher war die Gentrifizierungsforschung viele Jahrzehnte nur auf Städte fokussiert. Mittlerweile gibt es aber Studien, die dieses Phänomen auch im ländlichen Raum untersuchen. In der Schweiz kennen wir das Problem vor allem in touristischen Bergdörfern mit hohem Anteil an Ferienwohnungen und nur geringem Anteil an bezahlbaren Mietwohnungen. Nebst dem Effekt, dass zum Teil die bisherige Bevölkerung aus den bereits genannten Gründen verdrängt wird, sehen wir noch einen zweiten: Saisonarbeitskräften aus dem Tourismussektor sowie Neuzuzügerinnen und Neuzuzügern mit kleinerem Einkommen wird das Ankommen erschwert bzw. verunmöglicht. Das heisst, sie finden schlicht keine Wohnung mehr oder leben teils in prekären Verhältnissen ohne legale Mietverträge.

«Aus einer kritischen sozialwissenschaftlichen Perspektive ist Gentrifizierung jedoch immer Aufwertung und Verdrängung gleichermassen»

Miriam Meuth

Zurück zur Aufwertung von Quartieren: Kann es diese denn geben ohne Verdrängungseffekte?

Aufwertung ist in dieser Hinsicht immer eine Gratwanderung. Letztlich können Quartiere ja nicht nie erneuert werden. Aus meiner Sicht müssten wir aber behutsam und strategisch dabei vorgehen. Eine zentrale Stellschraube, um Verdrängung zu verhindern, ist, dass nach der Aufwertung noch immer bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit niedrigem Einkommen zur Verfügung steht.

Nun ist die Verdichtung wie auch die energetische Sanierung zugunsten der CO2-Reduktion seit Jahren eine raumplanerische Vorgabe. Wie eine ETH-Studie 2023 erstmals mit Zahlen belegen konnte, sorgen Sanierungen in der Stadt Zürich für Verdrängungen von Haushalten mit tieferem Haushaltseinkommen.

Genau, die ETH-Studie berechnete, dass verdrängte Haushalte monatlich 4800 Franken weniger verdienen als der Durchschnitt im Kanton Zürich. Überdurchschnittlich oft von solch einer direkten Verdrängung betroffen sind die ausländische Bevölkerung und alleinerziehende Eltern. Das sehen wir auch in unserer qualitativen Verdrängungsstudie. Vielfach sind es zudem alleinstehende, ältere Frauen, die Jahrzehnte in den Wohnungen gelebt und ein soziales Netzwerk aufgebaut haben. Einige von ihnen ziehen dann mangels Alternativen vorzeitig in Altersinstitutionen – Kosten, die die öffentliche Hand tragen muss.

Wie erleben es die Menschen, wenn ihr Wohnhaus aufgrund eines Neubaus abgerissen werden soll?

Was Menschen dabei vereint, ist das Gefühl von Fremdbestimmung. Sie fühlen sich ohnmächtig und haben Angst, dass sie fristgerecht keine neue Wohnung finden oder diesbezüglich massive Abstriche machen müssen. Interessant ist, dass die Wohnungskündigung zunächst eine gewisse Solidarisierung und Wehrhaftigkeit innerhalb der betroffenen Mieterschaft bewirkt. Angesichts der Konkurrenzsituation auf dem Wohnungsmarkt wird diese aber rasch brüchig.

Kann die Mieterschaft den Grund für die Sanierungen denn nachvollziehen?

Unsere Interviews mit den betroffenen Menschen zeigen, dass viele von ihnen durchaus verstehen, wieso Sanierungen notwendig sind – sei es Aufgrund von Verdichtung, Ökologie oder weil die Bausubstanz schlicht alt ist. Was viele aber nicht nachvollziehen können, ist das Ausmass der Sanierung oder gar die Notwendigkeit eines Abrisses. Wir hörten nicht nur einmal, dass die Bewohnerschaft lieber ihre Wohnung behalten hätte, statt eine Kochinsel oder ein modernes Bad zu bekommen. Für viele war aber das Schlimmste, wie mit ihnen umgesprungen wurde. Sie hatten keine richtige Ansprechperson seitens der Eigentümerschaft und konnten sich nirgends mit ihrer Kritik und ihrem Frust hinwenden.

Wo sehen Sie Lösungsansätze?

Es geht nicht darum, energetische Sanierungen oder Verdichtungsprojekte zu stoppen. Es geht um das wie und auch darum, wer diese baulichen Massnahmen vornimmt. Die letzten Jahre haben leider gezeigt, dass renditeorientierte und global tätige Eigentümerschaften die Verdichtungsziele und energetische Sanierungen dafür nutzen, ihre Bauvorhaben zu legitimeren – leider zu Lasten der sozialen Nachhaltigkeit. Gemeinnützige Wohnbauträger zum Beispiel suchen, wenn immer möglich, Zwischenlösungen in ihrem Bestand für ihre Mieterschaft, wenn ein Auszug zwecks Sanierung oder Ersatzneubau notwendig wird. Sie zeigen auch auf, wie ökologische Sanierung oder Neubauten, zusammen mit der Kostenmiete und einer durchmischten Mieterschaft, die Segregation zumindest verringern kann. Schliesslich könnten Gemeinden im bestehenden gesetzlichen Rahmen mehr Vorgaben machen, von wem und für wen gebaut werde soll.

Zur Person

Dr. Miriam Meuth ist seit Oktober 2022 Dozentin, Projektleiterin und Weiterbildungsverantwortliche des Instituts für Soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern. Hier ist sie Co-Programmleitung des MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung. Ihre Themenschwerpunkte sind Wohnen und Soziale Arbeit, institutionelles sowie prekäres Wohnen, Gentrifizierung und Verdrängung, Partizipation und Ausschluss in der Stadtentwicklung sowie Kinder- und Jugendhilfe, sozialpädagogische Übergangsforschung. 2017 promovierte sie im Fach Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main zum «Wohnen: Erziehungswissenschaftliche Erkundungen» (Beltz Juventa, 2018). 2023 erschien die open access Publikation «Entmietet und verdrängt», Meuth/Reutlinger bei transcript.

Im März 2024 leitete Miriam Meuth die Tagung «Wohnen für Alle». Allerlei Infos, Unterlagen und Präsentationen zu den einzelnen Workshops und Programmpunkten sind hier abrufbar.

Was Sie sonst noch interessieren könnte

Immobiliennachfrage

«Wolkenkratzer wie in Manhattan sind für die Schweiz nicht vorstellbar»

Wohnungsnot – das Schlagwort schlechthin der vergangenen Monate. Doch wo genau fehlen diese Mietwohnungen, was wird auf dem Mietwohnungsmarkt tatsächlich nachgefragt und wer bezahlt wie viel für seine vier Wände? Der Nachfragemonitor Mietwohnungsmarkt der Hochschule Luzern liefert mit einen einmaligen Datensatz nun konkrete Antworten. Den Monitor mitentwickelt hat Dani Steffen, Dozent und Experte für Immobilienfragen.
Wohnkalkulator

Die richtige Formel fürs Wohnen

Ob im Einpersonen-Haushalt oder mit der Familie: Die Art und Weise, wie wir wohnen, verändert sich stetig. Das macht es für Gemeinden schwierig, ihre Infrastruktur zu planen. Der HSLU-Datenexperte Ivo Willimann hat ein Instrument entwickelt, mit dem sich diese Veränderungen abbilden lassen.
Der Blick auf den Fluss lenkt von den Fenstern ab.

«Wohnen findet nicht nur in der Wohnung statt»

Das Wechselspiel von öffentlichem und privatem Raum ist für die Lebens- und Wohnqualität in einer Überbauung zentral. Angelika Juppien und Richard Zemp von der Hochschule Luzern haben erforscht, wie es gelingen kann.