Geht es um Zahlen und Fakten zum Wohnen in der Schweiz, ist man bei Ivo Willimann richtig. «Nur einen Moment, das analysiere ich gleich», sagt der Dozent für Gemeinde- und Regionalentwicklung an der Hochschule Luzern. Willimann «füttert» seinen leistungsstarken Computer mit Indikatoren, kommentiert die Ergebnisse mit konzentrierter Stimme, gibt nochmals Indikatoren ein und hält kurze Zeit später die gewünschte Antwort bereit: 31 Prozent der über 65-Jährigen leben allein, 58 Prozent leben zu zweit. Von denen, die zu zweit wohnen, sind fast alle verheiratet, nämlich 90 Prozent. Der Experte nennt weitere Zahlen und kommt in sein Element. Jedes Resultat führt wieder zu weiteren, neuen, spannenden Themenfeldern. Dass hier kein trockener Zahlenmensch am Werk ist, wird endgültig klar, als Willimann sagt, wie «cool» er diese Recherchen findet und seinen Eifer lachend mit der Begründung kommentiert, es habe ihn wieder einmal «gepackt».
In der Schweiz wird heute allein oder zu zweit gewohnt
Ein Paradebeispiel dafür ist Willimanns jüngste Untersuchung zur Entwicklung der Haushaltsgrössen in der Schweiz. Am Anfang stand die Frage einer Luzerner Journalistin: Warum sinken die Haushaltsgrössen im Kanton Luzern seit 1970 stetig? Willimann weitete die Frage auf die ganze Schweiz aus und stellte fest, dass diese Tendenz national nachweisbar ist und einen gesellschaftlichen Wandel widerspiegelt: 1970 zählte nur gerade jeder fünfte Haushalt eine einzige Person. Die Mehrheit der Schweizer Haushalte bestand aus drei oder mehr Personen. Heute hingegen ist der Einpersonenhaushalt der häufigste Haushaltstyp (36 Prozent), gefolgt von Zweipersonenhaushalten (33 Prozent). Schweizerinnen und Schweizer wohnen also mehrheitlich in Kleinhaushalten.
Wirtschaftliche Selbstständigkeit der Frauen als wichtiger Faktor
Hinter dem Trend zum Einpersonenhaushalt verbirgt sich insbesondere die Emanzipation der Frauen in der Schweiz: Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte der verbesserte Zugang der Frauen zur Bildung ihnen auch grössere wirtschaftliche Selbstständigkeit. «Eine Grundvoraussetzung für selbstbestimmtes Wohnen», wie Willimann betont. Die finanzielle Unabhängigkeit spiegelt sich auch im Zivilstand: Im Jahr 2015 waren über 65-jährige Frauen mit akademischem Abschluss dreimal häufiger ledig als Frauen mit tieferem Bildungsstand. Unverheiratete bilden heute denn auch fast die Hälfte der knapp 1,4 Millionen Einpersonenhaushalte (Stand 2020). Gleichzeitig mit dem wachsenden Wohlstand verdoppelte sich zwischen 1976 und 1990 die Zahl der Scheidungen. Und auch hier gilt: Geschiedene leben häufig in Einpersonenhaushalten, ihr Anteil beträgt 20 Prozent. Die kantonalen Analysen Willimanns zeigen zudem, dass diese Entwicklung in ländlich und katholisch geprägten Regionen der Schweiz zwar etwas später einsetzte, sich insgesamt aber im ganzen Land vollzogen hat. Der Wandel der Schweiz von einer ländlich geprägten Agrargesellschaft zu einer urbaneren Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist somit auch Sinnbild für eine säkularisierte Gesellschaft.
Wohnkalkulator: Instrument für die kommunale Siedlungsplanung
Dass Willimann mit Zahlen Geschichte abbilden und gleichzeitig Hinweise auf die künftige Entwicklung machen kann, ist dem Wohnkalkulator zu verdanken. Willimann hat das Analyse- und Beratungsinstrument ab 2015 an der Hochschule Luzern entwickelt, in Gemeinden erfolgreich getestet und mit Unterstützung der Age-Stiftung, die das Wohn- und Betreuungsangebot fürs Älterwerden fördert, weiterentwickelt. Der Wohnkalkulator verwertet Daten aus dem Einwohner- sowie aus dem Gebäude- und Wohnungsregister, die landesweit harmonisiert erhoben werden. Zusätzlich greift das Instrument auf ausgewählte Daten aus dem Steuerregister zu. «Diese Datenbasis ist besonders für Gemeinde- und Stadtbehörden wertvoll, weil sich damit Fragen der kommunalen Siedlungs-, Sozial- und Finanzplanung beantworten lassen», so Ivo Willimann.
In der Anwendung: Gemeinde eruiert, wie gross ihre Schule sein muss
In einer kleinen Schweizer Gemeinde, für die Ivo Willimann Daten ausgewertet hat, bauen private Investoren hundert neue Wohnungen. Die Gemeindebehörde muss ihre Infrastruktur diesem Wachstum anpassen, insbesondere den Schulraum. Für eine Abstimmung über eine Schulhauserweiterung brauchen sie verlässliche Prognosen. «Unsere Berechnungen zeigten, dass die in den letzten Jahren erstellten grösseren Wohneinheiten mit vier oder mehr Zimmern vergleichsweise wenig mit Familien belegt wurden», so Willimann.
Stattdessen belegten – mangels Alternativen an kleineren Wohnungen – oft Ein- und Zweipersonenhaushalte solche Familienwohnungen. In den Neubauwohnungen sind also entgegen ersten Annahmen der Gemeinde weniger Familien und damit weniger Kinder zu erwarten. Die Schulhauserweiterung kann folglich bescheidener geplant respektive aufgeschoben werden. Da offensichtlich ein Bedarf an Wohnungen für Kleinhaushalte besteht, regte Willimann zudem an, dass die Behörden das Gespräch mit den privaten Bauherren suchen, um gestützt auf den Erfahrungen der letzten Jahre den Wohnungsmix anzupassen. Statt noch mehr Fünfzimmerwohnungen zu bauen, ist das Wohnungsangebot mit zusätzlichen Dreizimmerwohnungen zu diversifizieren.
Der Wohnkalkulator kann auch komplexere Fragestellungen mit verschiedenen Variablen beantworten. Welcher Haushaltstyp verbraucht wie viel Wohnfläche je nach Alter der Haushaltsmitglieder? Und wie hängt das Gebäudealter damit zusammen? Nebst der raumplanerischen Relevanz sind diese Fragen zum Beispiel auch für die Alterspolitik interessant. Für ältere Menschen können zu grosse Wohneinheiten eine Belastung sein. In der Schweiz belegt ein Drittel der alleinlebenden über 80-Jährigen eine Wohneinheit mit mehr als 100 Quadratmetern Wohnfläche – 19 Prozent von ihnen wohnen in einem Einfamilienhaus. Falls künftig die Altershaushalte nicht vermehrt in kleinere Wohneinheiten umziehen werden, wird der durchschnittliche Wohnflächenkonsum in der Schweiz stark ansteigen. Der Grund: Die Mehrheit der heute über 80-Jährigen wohnt in einem Gebäude, das zwischen 1946 und 1980 erbaut worden ist. In dieser Zeit wurden kleinflächigere Wohneinheiten erstellt.
Die nächsten Generationen von über 80-jährigen werden vermehrt auch Wohneinheiten belegen, die in den 1990er und 2000er-Jahren entstanden sind, als bereits deutlich grösser gebaut worden ist. Willimann zeigt auf eine seiner zahlreichen Grafiken und sagt, «ich glaube, bisher sind wir die Einzigen, die eine solch komplexe Analyse automatisiert bieten können». Er sagt es ohne jegliche Eitelkeit. Man wäre nicht erstaunt, würde er jetzt noch anfügen, diese Recherchen seien «einfach cool». Man merkt: Einmal mehr hat es den Wohnraumexperten von der HSLU «einfach gepackt».