Verdichtet wohnen: Quartier im Einklang

Wie bringt man Lebensqualität und verdichtetes Bauen zusammen? Zwei gemeinsame Projekte der Departemente Technik & Architektur und Soziale Arbeit zeigen, wie das gehen kann. Jetzt ist eine Publikation dazu erschienen.

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Quartier im Einklang: Balkone in der Genossenschaftssiedlung Himmelrich 2 der abl, Luzern

Der freundliche Nachbar von unten wird zum Störenfried, wenn er mit einem lauten Telefongespräch unsere Balkonruhe trübt. Das Paar gegenüber mag fröhlich und hilfsbereit sein, aber wenn sie durch unsere Fenster in sämtliche Zimmer blicken können, empfinden wir sie als Eindringlinge. Siedlungen, in denen Menschen nahe nebeneinander leben, haben ihre Tücken. Trotzdem: Verdichtet bauen ist eine Notwendigkeit. Denn nicht nur die Bevölkerung der Schweiz wächst, sondern auch die durchschnittliche Wohnfläche, die jede Person für sich beansprucht. Soll die Zersiedelung der Landschaft nicht weiter voranschreiten, bleibt nur eines: näher zusammenrücken.

Planen für ein gutes Zusammenleben

Damit Dichte nicht nur akzeptiert, sondern als etwas Positives empfunden werden kann, müssen Architektinnen und Planer sich bereits in einem frühen Planungsstadium Gedanken über das Zusammenleben der Bewohnerinnen und Bewohner machen. Ist eine Siedlung einmal gebaut, so lassen sich viele Probleme nur mit grossem Aufwand lösen. Zwei Projekte, in denen Architektinnen und Sozialwissenschaftler der Hochschule Luzern zusammengearbeitet haben, widmeten sich der Frage, wie sich Lebensqualität und verdichtete Bauweise miteinander vereinbaren lassen: Im Projekt «Stadtklang – Aktivierung von Klangraumqualitäten in urbanen Aussenräumen» untersuchten Expertinnen und Experten aus Architektur, Städtebau, Stadtplanung, Landschaftsplanung, Baustoffkunde, Akustik und Sozialwissenschaften, welche akustischen Qualitäten Aussenräume haben. Das Projekt «Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten» beschäftigte sich damit, wie Rückzug und Austausch individuell gesteuert werden können, um Akzeptanz oder gar Zustimmung für die Dichte zu schaffen.

Für die Lebensqualität ist der Klang einer Siedlung genauso wichtig wie ihre optische Gestaltung.

Ulrike Sturm, Projektleiterin

Tamara Schmid lebt in einer Wohnung, die an eine Strasse grenzt und auf der Rückseite auf einen Innenhof hinausführt. Sie schätzt diesen Ausgleich zur lärmigen Strasse und amüsiert sich darüber, dass sie die Namen sämtlicher Kinder der Überbauung kennt, aber nicht weiss, wie sie aussehen, denn sie hört durch das offene Wohnzimmerfenster die rufenden Mütter, auch wenn sie die spielenden Kinder nicht sehen kann. Die Hoftür hingegen, die jedes Mal mit lautem Knall zufällt, nervt sie. Und auch auf das Mithören der nachbarlichen Balkongespräche würde sie gerne verzichten. Die akustische Ebene hat tagtäglich grossen Einfluss darauf, wie wohl wir uns in unserer Wohnung fühlen. Ulrike Sturm, Leiterin des Projekts «Stadtklang», ist zum Schluss gekommen: «Für die Lebensqualität ist der Klang einer Siedlung genauso wichtig wie ihre optische Gestaltung.» Für Architektinnen und Architekten allerdings sei die Auseinandersetzung mit dem Klang einer Überbauung Neuland. Damit nicht weiterhin Siedlungen gebaut werden, deren Akustik den Bewohnerinnen und Bewohnern das Leben schwer macht, finanzierten Innosuisse und das Bundesamt für Umwelt sowie verschiedene Unternehmen das Projekt «Stadtklang».

Wie misst man Klang?

Um herauszufinden, wie sich Innenhöfe akustisch möglichst angenehm gestalten lassen, müssen zunächst zwei Fragen geklärt sein: Was hören wir, wenn wir uns in einem Hof aufhalten? Und: Wie wird dies durch Gebäude beeinflusst? Das Stadtklang-Projektteam beschreibt drei Räume, die wir immer mithören: die Umgebung ausserhalb der Überbauung – den Verkehrslärm, von dem Tamara im Innenhof verschont bleibt –, den Raum zwischen den Häusern – das Türknallen und die Mütter, die ihre Kinder rufen – und den Nahraum im Umkreis von bis zu fünf Metern um eine Person oder eine Personengruppe (siehe Grafik).

Grafik zu den drei "Hör-Räumen" eines Hofes: die Umgebung ausserhalb der Überbauung, den Raum zwischen den Häusern, der Nahraum
Blau: die Umgebung ausserhalb der Überbauung. Rot: der Raum zwischen den Häusern. Grün: der Nahraum.

Wie gestaltet man Klang mit baulichen Mitteln?

Mit Schall geschieht vieles, und vieles davon gleichzeitig. Die Forscherinnen und Forscher konzentrierten sich auf die wichtigsten Phänomene, die für die bauliche Gestaltung wesentlich und gleichzeitig für die Messung und Bearbeitung handhabbar sind: Reflexion, Streuung, Absorption und Beugung.

  • Oberflächen werfen Schallwellen zurück, sie reflektieren sie. Dadurch können zum Beispiel Flatter-Echos entstehen, was Bewohnerinnen und Bewohner als unangenehm empfinden. Je härter und glatter eine Oberfläche ist, umso mehr reflektiert sie den Schall. Parallele Wände verstärken diese Wirkung noch.
  • Wird der Schall nicht nur in eine Richtung zurückgeworfen, sondern in viele verschiedene, so spricht man von Streuung. Diese wird als sehr viel angenehmer empfunden. Erreicht werden kann Streuung durch Materialvielfalt, Mikroporen oder Reliefs. Strukturierte Wände sind für die Akustik in einem Innenhof also besser als glatte Oberflächen.
  • Absorption bedeutet, dass Schallenergie in eine andere Energieform umgewandelt wird. Es entsteht das Gefühl, der Schall werde «geschluckt». Dafür eignen sich im Frequenzbereich der Sprechstimme poröse Materialien wie Schaumstoffe, Mineralfasermatten oder dicke Textilien. Harte und schwere Materialien wie Glas, Beton oder Holz hingegen absorbieren Schall praktisch nicht.
  • Schallwellen können durch Hindernisse abgelenkt werden. Dies geschieht beispielsweise an Gebäudeecken, Schallschutzmauern oder Hügelkanten. Dies gilt es schon bei der Stellung der Gebäude zueinander zu berücksichtigen.

Lärm ist nicht nur subjektiv

Klangkünstlers Andres Bosshard testet das Klangverhalten eines Durchgangs zum Innenhof.
Der Einfluss des Mauerwerks auf das Klangverhalten im Durchgang wird getestet, zuerst mit «nackter» Mauer, dann mit strukturiertem Backsstein. Projektleiterin Ulrike Sturm war beeindruckt, wie gross der Unterschied war.

«Lärm ist das Geräusch der anderen», so der Schriftsteller Kurt Tucholsky. Doch bei aller Subjektivität des Empfindens lassen sich Geräusche auch nach objektiven Kriterien erfassen: Wie laut sind sie, wie oft und wann treten sie auf? Welche Tonfrequenz oder welchen Rhythmus haben sie? Welcher Klang entsteht? Um das herauszufinden, machte sich das Team mit Hilfe des Klangforschers und -künstlers Andres Bosshard von der Zürcher Hochschule der Künste in vier Siedlungsinnenhöfen und einem öffentlichen Hof mit acht Mikrofonen und einer Pauke ans Werk. Die Pauke diente dazu, ein ständiges, gleichbleibendes und damit gut vergleichbares Grundgeräusch zu erzeugen. An einzelnen Stellen veränderte das Team anschliessend die Oberfläche der Wände – mit frappantem Resultat: Der Aufbau einer Backsteinmauer mit strukturierter Oberfläche veränderte die akustische Situation in einem überdachten Durchgang völlig.

Gewünscht: Ruhe und Diskretion

Plötzlich auftretende Geräusche stören, und anhaltende, wie zum Beispiel eine mechanische Lüftung, nerven. Eine gute Schliessanlage würde das Zuknallen in Tamara Schmids Innenhof verhindern. Technische Anlagen sollten so platziert und gestaltet werden, dass niemand sie hören kann. Eine weitere Aussage, die sich verallgemeinern lässt, mag überraschen: Leiser ist nicht immer besser. Dies deshalb, weil Ruhe nicht der einzige Anspruch ist, den wir an einen Innenhof stellen; wir wollen auch Diskretion. Fehlen aber die tiefen und mittleren Frequenzen ganz, die vor allem aus dem umgebenden Raum stammen, so werden die Klänge aus dem Raum zwischen den Baukörpern – einzelne Stimmen etwa – klarer vernehmbar. Das Ziel der akustischen Hofgestaltung, ist das Projektteam überzeugt, muss eine ausgewogene Kombination von Aussen und Innen sein.

Simulation als Planungshilfe

Die Erkenntnisse aus dem Projekt «Stadtklang» helfen Architektinnen und Planern schon in einem sehr frühen Stadium. Dank Simulationsprogrammen sind sie in der Lage, mit einer veränderten Stellung der Gebäude oder verschiedenen Materialien zu experimentieren und so das Klangverhalten zu beeinflussen. Nur wenn sie um komplexe Wechselwirkungen wissen, können sie präzise Fragen stellen und aus Simulationen brauchbare Antworten entwickeln. Denn Klang entsteht immer im Zusammenspiel vieler Faktoren. In der Architektur gilt es, dieses Zusammenspiel zu gestalten.

Publikation «Stadtklang – Wege zu einer hörenswerten Stadt»

Cover Stadtklang - Wege zu einer hörenswerten Stadt.
Cover Stadtklang – Wege zu einer hörenswerten Stadt.

Die zweibändige Publikation «Stadtklang – Wege zu einer hörenswerten Stadt» leistet einen Beitrag dazu, Klang als gestaltbare qualitative Dimension von Schall zu begreifen. Band 1 mit dem Titel «Perspektiven» erschien bereits 2016. Der neu erschienene Band 2 vereint die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt in einem interdisziplinären Instrumentarium für die planerische und bauliche Praxis und beleuchtet akustische Wirkungen des Gebauten. Es beschreibt, wie Klangräume erfasst werden können, gibt Hinweise, wann im Verlauf des Planungsprozesses welche Mittel zur Verbesserung des Klangs zur Verfügung stehen, nennt Vor- und Nachteile dieser Mittel, gibt Empfehlungen zur Klangraumgestaltung und beschreibt Beispiele für die akustische Wirkung des Gebauten. Ergänzt wird der Band von einem Glossar und einer Checkliste für die Planung.
Sturm, Ulrike, Bürgin, Matthias und Schubert, Axel (Hrsg.): Stadtklang. Wege zu einer hörenswerten Stadt, Band 2: Klangraumgestaltung von Aussenräumen, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, www.vdf.ethz.ch, 112 Seiten, ISBN 978-3-7281-3939-9

Beteiligte Projektpartner

Forschungsteam:
Hochschule Luzern – Technik & Architektur, Kompetenzzentrum Typologie & Planung, Matthias Bürgin (Co-PL), Timo Walker, Richard Zemp, und Institut für Innenarchitektur, Carmen Gasser Derungs
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Institut für Soziokulturelle Entwicklung, Ulrike Sturm (Co-PL), Meike Müller, Axel Schubert, Tom Steiner
Zürcher Hochschule der Künste, Andres Bosshard
Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, Sabine von Fischer

Finanzielle Trägerschaft/Wirtschaftspartner:
Bundesamt für Umwelt BAFU, Abteilung Lärm und NIS, Trond Maag
Stahlton Bauteile AG, Frick, Ernst Gisin, Peter Curiger, Beat Wolfensberger
Keller Systeme AG, Pfungen, Christian Keller, Max Wassmer, Samuel Cros
abl Allgemeine Baugenossenschaft Luzern, Peter Bucher, Bruno Koch, Martin Buob
Grün Stadt Zürich, Paul Bauer
Marc Kocher Architekten, Zürich, Marc Kocher

Beirat:
Kurt Eggenschwiler, Empa, Abteilung Akustik/Lärmminderung, Dübendorf
Thomas Gastberger, Kanton Zürich, Tiefbauamt, Fachstelle Lärmschutz
Christoph Fahrni, Fahrni Landschaftsarchitekten, Luzern
Martin Lachmann, applied acoustics GmbH, Gelterkinden
Christian Popp, Lärmkontor GmbH, Hamburg (D)

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