«Eine Lieferkette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied»

Die weltweite Logistik ist ins Stocken geraten. Daran sind nicht nur die Coronakrise und der Krieg in der Ukraine schuld, sagt Ilja Bäumler. Der Studiengangleiter des neuen Masters in Logistik und Supply Chain Management der HSLU weiss, wie die Lieferketten wieder verlässlicher werden könnten.

Die globalen Transportwege führen immer wieder durch neuralgische Punkte: Frachtschiffe warten auf die Durchfahrt durch den Suezkanal.

Die globalen Transportwege führen immer wieder durch neuralgische Punkte: Frachtschiffe warten auf die Durchfahrt durch den Suezkanal.

Ilja Bäumler, wann mussten Sie das letzte Mal auf ein Produkt verzichten, weil es nicht geliefert wurde?

Ich lebe in Deutschland. Da fehlte in den Supermärkten in diesem Frühjahr das Sonnenblumenöl. Das war zwar ärgerlich, aber natürlich nicht tragisch – ich habe es einfach durch ein anderes Öl ersetzt. Trotzdem war ich erstaunt, als ich festgestellt habe, dass in der Schweiz die Regale voll damit waren.

Momentan scheint immer irgendwo etwas zu fehlen. Woran liegt das?

Die Corona-Pandemie hat den Güterverkehr während einer längeren Zeit teilweise lahmgelegt. Die globalen Lieferketten sind dadurch bis heute beeinträchtigt. Zudem führen verschiedene kriegerische Konflikte dazu, dass wichtige Transitländer wie die Ukraine oder Russland nicht mehr wie gewohnt durchfahren werden können. Und jetzt kommen noch die steigenden Energiepreise hinzu, welche die Produktion und den Transport gewisser Güter unrentabel machen.

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Logistik in Zahlen

Marktvolumen des Schweizer Logistikmarktes: 41 Milliarden Franken (2019)

Marktvolumen des weltweiten Logistikmarktes: 5’583 Milliarden Franken (2018).

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Gütermenge, die 2021 über den Flughafen Zürich transportiert wurde: 393’062 Tonnen (Veränderung zu 2020: +35%)

Gütermenge, die 2021 über das Schweizer Schienennetz transportiert wurde: 67,9 Millionen Tonnen (Veränderung zu 2020: +8%).

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Anzahl Pakete, welche die Post 2021 ausgeliefert hat: 202 Millionen
Anzahl Pakete, welche die Post 2014 ausgeliefert hat: 112 Millionen.

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Geschätzte Anzahl Lastwagenchauffeure, die in der Schweiz pro Jahr aus dem Beruf aussteigen: 5’000

Geschätzte Anzahl Lastwagenchauffeure, die in der Schweiz pro Jahr über eine Lehre oder den Quereinstieg dazu kommen: 2’000.

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Preis für den Transport eines 40-Fuss-Containers auf der Übersee-Strecke Schanghai-Rotterdam
… im Januar 2020: 1’999 US-Dollar
… im Januar 2022: 14’054 US-Dollar
… im August 2022: 8’939 US-Dollar.

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Welthandelsflotte im Jahr 2021
Total Schiffe: 54’743
RoRo/Stückgutschiffe: 15’106
Massengutschiffe: 12’258
Rohöltanker: 7’350
Passagierschiffe: 7’027
Chemiekalientanker: 5’664
Containerschiffe: 5’307
Flüssiggastanker: 2’031

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Müssen wir uns von einer Welt verabschieden, in der immer alles verfügbar ist?

Die globalisierten Märkte, so wie wir sie heute kennen, basieren auf der Verflechtung der weltweiten Wirtschaftsräume. Diese Verflechtungen wurden durch unterschiedliche Entwicklungen in den letzten Jahren stark strapaziert. Ich denke da an die protektionistische America-First-Strategie von Donald Trump, den Austritt Grossbritanniens aus der EU oder die zahlreichen Corona-Lockdowns überall auf der Welt. Das alles wirkt sich auch auf die Verfügbarkeit von Gütern bei uns aus. Wir müssen allerdings differenzieren.

Inwiefern?

Güter des täglichen Bedarfs wie Mehl, Waschmittel oder Toilettenpapier werden in absehbarer Zukunft nicht ausgehen. Klar kann es in Einzelfällen einmal vorkommen, dass etwas fehlt – so wie beim Sonnenblumenöl. Aber auf lange Frist sind die Lieferketten bei diesen Massenprodukten sehr gut aufgestellt. Die Anbieter sichern sich für kurzfristige Lieferausfälle oder für einen plötzlichen Anstieg der Nachfrage ab.

Wo sieht es anders aus?

Bei Nischenprodukten und Luxusgütern – sie sind anfälliger auf brüchige Lieferketten und auf plötzlich ansteigende Nachfragen. Das erleben wir momentan beispielsweise bei den E-Bikes. Wer heute ein neues E-Bike kaufen will, muss damit rechnen, monatelang darauf warten zu müssen. Das liegt einerseits daran, dass einzelne Bestandteile nicht geliefert werden können. Andererseits hat die Corona-Pandemie einen Velo-Boom ausgelöst. Die Konsumgüter- und Handelsbranche konnte den Bedarf der Kundinnen und Kunden nur schwer einschätzen, was zu einer fehlerhaften Planung führte.

«Güter des täglichen Bedarfs wie Mehl, Waschmittel oder Toilettenpapier werden in absehbarer Zukunft nicht ausgehen.»

Einige Schweizer Firmen denken über das Zurückholen der Produktion aus Übersee nach Europa nach. Würde das die Lieferketten verlässlicher machen?

Kürzere Wege würden die Flexibilität und die Sicherheit der Lieferketten zwischen dem Produktionsstandort und dem Absatzmarkt natürlich erhöhen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass sich in den letzten Jahrzehnten typische Produktionsländer – insbesondere in Fernost – stark spezialisiert haben. Für viele Produktionsteile gibt es schlicht keine Zulieferer aus Europa. Man denke beispielsweise an die Halbleiterproduktion in Taiwan, von der mehr oder weniger die ganze Welt abhängig ist. Wenn sich ein Schweizer Unternehmen entschliesst, seine Produkte in Europa herzustellen, werden sie viele Zwischenprodukte und Rohstoffe trotzdem noch von weit her importieren müssen.

Die Globalisierung ist also nicht mehr umkehrbar?

Die Frage ist, ob das überhaupt zielführend wäre. Globalisierung kann man heute nicht mehr gleichsetzen mit «der Westen produziert im Osten und verschifft die Ware dann zurück». In vielen der sogenannten Billiglohnländern ist in den letzten Jahrzehnten der Wohlstand deutlich gestiegen. Die Länder sind nicht mehr nur reine Produktionsstandorte, sondern haben sich zu interessanten Absatzmärkten entwickelt. Würden die europäischen Unternehmen ihre Produktion nach Europa zurückholen, gingen diese Märkte für sie wieder verloren. Europa hat also in mehrfacher Hinsicht ein wirtschaftliches Interesse daran, die Strukturen der Globalisierung zumindest in einem gewissen Umfang aufrechtzuerhalten.

«Logistik besteht nach wie vor hauptsächlich aus Geschäftsbeziehungen.»

Ist der Preis für unseren Wohlstand die Abhängigkeit von China?

Das ist etwas überspitzt formuliert, aber im Kern nicht ganz falsch. Das Leben, so wie wir es heute kennen, wäre ohne globalisierte Märkte kaum denkbar. Entsprechend ergeben sich Abhängigkeiten. Je nach politischer Situation der Länder, von denen wir abhängig sind, kann das problematisch sein. Einerseits, weil sich dadurch ethische Fragen auftun – beispielsweise dann, wenn sich ein Land nicht an die Menschenrechte hält. Andererseits, weil sich die politische Lage eines Landes auf die Sicherheit der Lieferketten auswirken kann.

Was braucht es, damit wir uns auf längere Sicht wieder auf die weltweite Logistik verlassen können?

Am wichtigsten sind sichere Transportwege. Diese hängen stark von den politischen Verhältnissen der Transitländer ab – was sich nur bedingt beeinflussen lässt. Die Logistikbranche arbeitet daher intensiv an einer besseren Überwachung der Lieferketten. Denn eine Lieferkette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Mit digitalen Tools lassen sich Unterbrüche an neuralgischen Punkten früher erkennen und Alternativrouten errechnen. Es wäre aber fatal, nur auf technologische Entwicklungen zu setzen.

Was spielt noch eine Rolle?

Es braucht Fachkräfte, die einerseits die Komplexität der heutigen Lieferketten verstehen und andererseits wissen, wie die Menschen funktionieren, mit denen sie zu tun haben. Logistik besteht nach wie vor hauptsächlich aus Geschäftsbeziehungen. Wenn es den Unternehmen gelingt, mit den verschiedenen Akteuren entlang der Lieferkette strategische Partnerschaften aufzubauen, von denen alle gleichermassen profitieren, stärkt das die Verlässlichkeit enorm.

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