«Sie haben ein Recht auf Schutz»

Menschen mit einer Behinderung haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Gleichwohl wird das Problem in der Öffentlichkeit marginalisiert: Verlässliche Daten gibt es nicht, und Hilfsangebote sind für Betroffene oft nur schwer zugänglich. Warum das so ist, erklärt Prof. Dr. Paula Krüger, die an der HSLU zu Gewalt und Opferschutz forscht.

Helfende Hand

Paula Krüger, weshalb sind Menschen mit Behinderungen besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Aufgrund von Abhängigkeiten und Machtasymmetrien. Das sind grundsätzlich Risikofaktoren, wenn es um Gewalt geht. Je nach Form und Schwere der Behinderung sind Menschen mit Behinderungen von der Unterstützung von Bezugs-, Pflege- oder Betreuungspersonal abhängig. Zudem kann ein Mensch mit einer kognitiven Beeinträchtigung zum Beispiel die Strategien und Absichten eines Täters oder einer Täterin weniger gut durchschauen oder die Person ist es beispielsweise gewohnt, beim Waschen auch an intimen Stellen berührt zu werden. Gerade wenn die Betroffenen sexuell nicht aufgeklärt sind, fällt es ihnen schwer, die Handlungen einzuordnen oder das zu benennen, was mit ihnen passiert ist. Auch ist es immer noch so, dass die Betroffenen häufig nicht ernstgenommen werden.

«Auch Menschen mit Behinderungen werden Opfer von sexueller Gewalt.»

Solche Fälle werden viel seltener aufgedeckt; das wissen auch die Täterinnen und Täter. Und das hat auch mit gesellschaftlichen Bildern von Gewaltopfern und von Menschen mit Behinderungen zu tun. Zum Beispiel meinen viele, dass nur junge, attraktive Frauen Opfer sexueller Gewalt werden. Aber auch Männer, ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen werden unabhängig von der wahrgenommenen Attraktivität Opfer von sexueller Gewalt. Gerade Letztere haben ein besonders hohes Risiko.

Leiden Menschen mit Behinderungen besonders an den Folgen von Gewalt?

Gewalt hat bei allen Menschen negative Auswirkungen auf die physische und/oder psychische Gesundheit. Bei Menschen mit Behinderungen können aber zum einen bereits vorhandene Belastungen verstärkt werden, zum anderen können sie aufgrund der Behinderung weniger Ressourcen haben, um sich Unterstützung zu holen und das Erlebte zu verarbeiten.

Schon seit Jahren wird die Schweiz dafür kritisiert – auch von der UNO – dass sie keine zuverlässigen Daten über Gewalt an Menschen mit Behinderungen erhebt. Nun hat der Bundesrat reagiert und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen damit beauftragt, Klarheit zu schaffen. Wissen wir nun mehr darüber?

Man weiss aus internationalen Studien, dass Menschen mit einer Behinderung ein höheres Risiko haben, Opfer von Gewalt zu werden. Verlässliche Zahlen für die Schweiz haben wir aber nach wie vor noch nicht, da eine eigens dafür ausgelegte Erhebung fehlt. Erhebt man bei Fällen von häuslicher Gewalt den Faktor einer Behinderung, fehlen in dieser Statistik alle Fälle, welche sich beispielsweise in Pflegeheimen abspielen. Auch die polizeiliche Kriminalstatistik liefert keine Zahlen, da dann theoretisch bei jeder Anzeigenerfassung deklariert werden müsste, ob und welche Beeinträchtigung vorliegt. Das ist sicherlich nicht wünschenswert. Es ist somit wichtig und sehr erfreulich, dass der Bund nun die Datenlage verbessern will.

Bundesrat will Menschen mit Behinderungen besser vor Gewalt schützen

Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 16. Juni 2023 einen Bericht zur Gewalt an Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Der Bericht beleuchtet die aktuelle Datenlage und die vorhandenen Schutz- und Beratungsangebote. Er sieht verschiedene Massnahmen und Empfehlungen vor, wie Menschen mit Behinderungen künftig besser vor Gewalt geschützt werden sollen.

Zum Bundesratsbericht

Gibt es spezielle Hilfsangebote für diese besonders gefährdeten Menschen?

Zwar gibt es Angebote, die sich allgemein an gewaltbetroffene Menschen richten. Das wären beispielsweise Opferhilfestellen. Diese sind aber in der Regel nicht speziell auf Menschen mit Behinderungen ausgerichtet. Für diese gibt es wiederum auch Fachstellen, die aber häufig nicht speziell auf Gewaltopfer ausgerichtet sind.

Anders sieht es in Einrichtungen aus, in denen Menschen mit Behinderungen leben oder arbeiten. Dort gibt es zum Teil interne Meldestellen für Gewaltvorfälle, die entsprechend auf gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind.

Opferhilfestellen sind grundsätzlich aber auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich, oder etwa nicht?

Nicht unbedingt. In der Theorie stehen sie zwar allen Menschen zur Verfügung, in der Realität sind die meisten für Menschen mit Behinderungen aber nur eingeschränkt zugänglich. Da gibt es teils riesige Baustellen.

Von welchen Baustellen sprechen wir hier?

Beispielsweise steht das Informationsmaterial solcher Anlaufstellen nur selten in Form von Videos mit Untertiteln zur Verfügung. Ausschilderungen werden selten mit Piktogrammen versehen oder die Kontaktaufnahme über digitale Kanäle wie WhatsApp oder via Sprachnachrichten ist nur selten möglich. Zugänglichkeit hat verschiedene Dimensionen. Eine räumliche Barrierefreiheit reicht bei weitem nicht.

«Eine räumliche Barrierefreiheit reicht bei weitem nicht.»

Die mit Abstand grössten Baustellen sind aber, dass die Angebote zu wenig bekannt und Opferschutz und Behindertenhilfe zu wenig vernetzt sind. Diese Vernetzung wäre eine wichtige Grundlage, die bereits viele weitere Probleme lösen könnte. Denn zu erwarten, dass sämtliche Fachpersonen der Anlaufstellen auf sämtliche Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen vorbereitet sind, ist utopisch. Die einzelnen Stellen müssen deshalb wissen, mit wem sie in solchen Situationen Kontakt aufnehmen können.

Sie haben auch die fehlende Bekanntheit bestehender Anlaufstellen angesprochen: Wie kann diese gefördert werden?

Zum Beispiel indem man Menschen mit Behinderungen in Präventionskampagnen inkludiert. Das heisst: Bei einer Kampagne zu häuslicher Gewalt müssen auch Menschen mit Behinderungen dargestellt werden – und zwar als Betroffene. Und damit meine ich nicht nur eine Person im Rollstuhl, sondern vielleicht auch eine Person mit kognitiver Beeinträchtigung oder mit einer Sehbehinderung.

Gibt es auch Bereiche, in denen die Zugänglichkeit schon sehr gut ist?

Ja, die gibt es. Recht gut ist meist die räumliche Barrierefreiheit. Auch ist häufiger Informationsmaterial in Leichter Sprache vorhanden, was gerade für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung wichtig ist. Ein weiterer und namhafter Punkt ist, dass sich die Mitarbeitenden oftmals der bestehenden Probleme bewusst sind und verbessern, wo es ihnen die eingeschränkten Ressourcen erlauben.

Ressourcen scheinen in verschiedenen Dimensionen ein Problem zu sein. Wäre hier nicht die Politik in der Pflicht?

Ganz klar ja! Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Schutz. Die Schweiz hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und ist somit dazu verpflichtet. Das wurde mit dem Bericht jetzt auch unterstrichen. Es ist die Aufgabe der Politik, entsprechende Ressourcen zu sprechen.

«Es braucht mehr Wissen!»

Ausserdem heisst Ressourcen nicht nur, dass es besser finanzierte Hilfsangebote gibt. Es braucht auch mehr Wissen; sprich: mehr Investitionen in die Forschung. Und wir müssen dafür sorgen, dass diese Erkenntnisse zu den Fachpersonen gelangen. Die Dringlichkeit und die möglichen Wege sind aufgezeigt. Jetzt gilt es zu handeln.

Kann ich auch als Privatperson etwas tun, um diesem Problem entgegenzuwirken?

Ganz klar: hinschauen und nachfragen! Wir alle müssen uns bewusst sein, dass auch Menschen mit einer Behinderung Opfer von Gewalt sein können. Aufmerksamkeit innerhalb des sozialen Umfelds ist deshalb enorm wichtig. Und wenn man sich unsicher ist, bei einer Fachstelle nachfragen und sich beraten lassen.

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