Sexuelle Aufklärung: barrierefrei und digital

Vor zehn Jahren ratifizierte die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention. Damit werden Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklungsfähigkeit anerkannt – auch in ihrem Recht auf sexuelle Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Dazu braucht es sexuelle Aufklärung. Ein internationales Projekt unterstützt Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten dabei auf ihrem Weg.

Titelseite herzfroh 2.0

Alex möchte Lou besser kennenlernen, denn Alex findet Lou richtig gut. Die beiden kennen sich aus der Berufsschule und haben ihre Telefonnummern ausgetauscht. Sie schreiben sich oft und Alex möchte nun herausfinden, ob es mehr als Freundschaft zwischen ihnen ist.

Eine solche Szene dürften wir alle schon einmal erlebt haben. Für die einen ist es aufregend, andere werden vielleicht eher nervös. Und für einige Menschen kann es zur echten Herausforderung werden: «Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder, wie sie sich selbst lieber bezeichnen, Menschen mit Lernschwierigkeiten, haben meist weniger und später Partnerschaften als Menschen ohne Beeinträchtigung», sagt Daniel Kunz. Er doziert und forscht an der HSLU zu Themen sexueller Gesundheit und zur Sexualpädagogik. «Zudem sind sie oft nicht aufgeklärt, haben wenig Kenntnisse über ihre eigenen Rechte und ein gering ausgeprägtes Körperbewusstsein und -wissen.»

Grosse Unsicherheit bei Eltern und Betreuenden

Das Privatleben von Menschen mit Lernschwierigkeiten unterliegt oft strengen Regeln sowie Interaktions- und Beziehungsbeschränkungen. Allgemein verlaufe der Ablösungsprozess vom Elternhaus bei ihnen langsamer und zurückhaltender, erklärt Daniel Kunz. «Viele Eltern verzichten auf eine angemessene Sexualaufklärung oder verzögern diese, weil sie befürchten, dass ihre Kinder negative Erfahrungen machen könnten.» Auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe würden sexuelle Themen und Bedürfnisse aufgrund von Unsicherheiten seitens der Betreuungspersonen wenig oder häufig gar nicht thematisiert. «Dort findet man noch oft die Ansicht, dass mit sexueller Bildung ‹schlafende Hunde› geweckt würden», sagt Daniel Kunz. «Dies verhindert aber einen offenen und positiven Austausch über Sexualität und ein selbstbestimmtes sexuelles Leben.»

Neuauflage bestehender Aufklärungsmaterialien

Daniel Kunz ist nebst seiner Funktion als Studiengangsleiter des MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich an der HSLU auch Co-Leiter des Projektes «herzfroh 2.0». Es ist eine Kooperation zwischen der HSLU und der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Seit 2007 wird in der Schweiz das sexualpädagogische Manual «herzfroh» eingesetzt. Es ist das erste seiner Art im deutschsprachigen Raum und richtet sich an Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Wie der Zusatz «2.0» vermuten lässt, handelt es sich nun um eine Neuauflage in erweiterter Form: «herzfroh 2.0» richtet sich neu an Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten und umfasst nebst sechs Themenheften auch eine Webseite sowie ein narratives Serious Game. Das ist ein digitales Spiel, das nebst seiner Eigenschaft als Spiel eine zusätzliche Funktion übernimmt – die Vermittlung von Lerninhalten zu Freundschaft und Liebe. Narrativ deshalb, da ihm eine Geschichte zugrunde liegt. Aus dem Spiel stammt auch die am Anfang geschilderte Szene mit Alex und Lou.

Aufklärung ist ein Menschenrecht

«Die herzfroh-Reihe leistet einen Beitrag zu sexueller Selbstbestimmung, sozialer Teilhabe und dem Schutz der sexuellen Integrität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten, wie dies die UN-Behindertenrechtskonvention einfordert», sagt Daniel Kunz. Zehn Jahre ist es nun her, seit die Schweiz die Konvention ratifizierte. «Menschen mit Lernschwierigkeiten werden damit in ihrer Entwicklungsfähigkeit anerkannt und nicht bloss als defizitär angesehen. Sie haben das Recht, selbstbestimmt zu leben und zu lieben.» Dafür benötige es Aufklärung. Denn diese sei die beste Prävention gegen sexuellen Missbrauch. Kunz verweist auf einen Fall im Jahr 2011. Damals halfen die herzfroh-Materialien bei der Aufdeckung des bis dahin grössten Missbrauchsskandals in Schweizer Heimen. Dank der sexualpädagogischen Arbeit mit diesen Heften in einer Einrichtung für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung waren zwei junge, erwachsene Opfer in der Lage, die erlittene sexuelle Gewalt durch einen Betreuer zu kommunizieren. Der Täter konnte überführt und verurteilt werden.

Erhöhte Zugangschancen dank Digitalisierung

Die heutigen digitalen Möglichkeiten böten Menschen mit Lernschwierigkeiten zusätzliche Zugangschancen in der Aufklärung, so der Sozialpädagoge Daniel Kunz. «Sie können sich Informationen unabhängig von Dritten oder, wenn gewünscht, mit Hilfe von Betreuungspersonen selbst erschliessen. Die Digitalisierung ist eine Möglichkeit, Chancengerechtigkeit herzustellen.» Auf der Website von «herzfroh 2.0» gibt es eine Vorlesefunktion, deren Tempo und Lautstärke sich individuell anpassen lassen, da Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig eine Sehschwäche haben oder nicht gut lesen können. Das musste auch bei der Entwicklung des Serious Game beachtet werden. «Bilder und Text müssen zusammen die gewünschte Botschaft bilden», sagt Ariana Huwiler. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Informatik der HSLU, wo sie die Software entwickelt haben. Das fertige Spiel ist daher auf dem Bildschirm in zwei Hälften geteilt: Text und Auswahlmöglichkeiten finden sich auf der linken Seite, Illustrationen auf der rechten Seite. Der Text wird laut vorgelesen und kann unbegrenzt wiederholt werden.

Screenshot des Serious Game
Sind Alex und Lou nur Freunde oder ist es vielleicht mehr? Das Serious Game soll Menschen mit Lernschwierigkeiten dabei helfen, sich mit solchen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Es wurde speziell für diese Zielgruppe entwickelt.

Menschen mit Lernschwierigkeiten wird durch die Eltern oder Pflegekräfte die Entscheidungsfindung oft abgenommen. «Entscheidungen zu treffen ist aber ein notwendiger Bestandteil der Autonomie. Das Spiel soll eine sichere Umgebung bieten, um dies zu üben und die Konsequenzen von Entscheidungen zu erkunden», sagt Huwiler. Die Spielenden wählen jeweils aus zwei Möglichkeiten aus und steuern so den Fortlauf der Geschichte. Der Ton des Spiels bleibt immer konstruktiv und bestärkt die Spielenden, sich in der Spielsituation für ein Verhalten zu entscheiden. Das Spiel läuft derzeit nur auf Desktop-PCs. «Eine App für Mobiltelefone würde die Reichweite nochmals erhöhen», so die Softwareentwicklerin. «Gegenwärtig sammeln wir nun Erfahrungen mit dem Spiel und lassen diese in allfällige weitere Games ergänzend zu den Themenheften einfliessen.»


Drei Fragen an Ariana Huwiler

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Immersive Realities Research Lab der HSLU

Was mussten Sie bei der Entwicklung des Games – das sich um ein mehrheitlich tabuisiertes Thema dreht – beachten?

Mit dem Spiel betraten wir Neuland, denn es gibt wenig Literatur zu Games für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Wir entschieden uns daher für einen Themenbereich, der im Aufklärungskontext unproblematisch ist. Dies aus dem Grund, dass wir die Spielenden nicht mit Inhalten konfrontieren wollten, die sie allenfalls überfordern oder sie nicht einordnen können. Unser narratives Serious Game ergänzt das Themenheft der herzfroh-Serie zu «Freundschaft und Liebe». Es geht darum, zu lernen, worin der Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe besteht, wie man auf eine Person zugeht, die einem gefällt, wie man Zuneigung zeigt, mit verschiedenen Bedürfnissen umgeht und Grenzen respektiert.

An der Entwicklung des Spiels war die Zielgruppe selbst auch beteiligt. Wieso wurde sie eingebunden und auf welche Weise?

Für uns war zentral, ein gutes Verständnis für die künftigen Spielenden zu entwickeln, gerade weil es kaum Forschung dazu gibt. Damit sie sich im Spiel wiederfinden, ist entscheidend, dass wir ihre Lebenswelt gut abbilden. Ansonsten verfehlt es möglicherweise seinen Zweck. Wir führten regelmässige Spieletest in Deutschland und der Schweiz durch – mit Mitgliedern der Zielgruppe aus einer Berufsschule, Expertinnen und Experten sowie mit pädagogischen Fachkräften. So konnten wir qualitative Daten in Form von direktem Feedback und Beobachtungen sammeln. Zusätzlich waren Fachexpertinnen und Spieledesigner im Schreibprozess der Geschichte involviert.

Sie erarbeiten derzeit Richtlinien, die Game Designende dabei unterstützen sollen, Spiele für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu erstellen. Welche Erkenntnisse konnten Sie bis dato sammeln?

Erstens: Das Spiel darf nicht zu lang sein. Die Länge des Spiels orientiert sich dabei aber nicht an der zeitlichen Dauer, sondern an der Anzahl Entscheidungen, die es während des Spiels zu treffen gilt. Hier haben sich sieben bis neun Entscheidungen bewährt. Zweitens: Es ist wichtig, zu wissen, welche Entscheidungen von den Spielenden viel Reflexion verlangen. Hierbei hilft wieder, sich in die Zielgruppe hineinzuversetzen und sie mit ins Boot zu holen. Ein Beispiel hierzu: Die Wahl der Kleidung für das erste Date. Was aus unserer Perspektive eine kurze Sache war, gab bei den Jugendlichen viel zu überlegen und abzuwägen. Die Entscheidung hat im Spiel nun einen höheren Stellenwert erhalten, um die Lebenswelt der Altersgruppe besser zu repräsentieren. Und drittens: Es braucht technische Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel eine Vorlesefunktion, damit das Game allein oder mit einer selbst gewählten Assistenz gespielt werden kann.

Das Projekt wurde von den Interdisziplinären Themencluster (ITC) der HSLU unterstützt.

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