Drei riesige Raben umrahmen eine gelbe Strahlenfrau. Aus ihren Schnäbeln quellen blaue Wolken. Am Himmel schweben winzige Krieger, mit Schwertern, Äxten und Schilden in der Hand. Einer von ihnen hat sich gerade selbst geköpft.
Das Bild hängt an der Wand in der Wohnung von Ginny Litscher, sie hat es selbst gemacht. Wenn Sie im Gespräch den Kopf hebt, dann sieht man auch den Fuchs, der auf ihrem T-Shirt unter dem vergoldeten Kragen das Maul aufreisst und die Zähne zeigt.
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In der Welt von Ginny Litscher leben Tiere, Pflanzen, Menschen und Fabelwesen. Einhörner und grimmig schauende Widder, Tiger und Affen, üppig blühende Lilien und sich wild rankende Bäume. Und Frauen. Meistens nackt, in aufreizenden Posen und doch in sich selbst versunken. Und oft dabei, sich selbst zu befriedigen.
Stundenlange Handarbeit im Knien oder Stehen
Nicht nur in ihren Motiven, auch in ihrer Kunst überschreitet Ginny Litscher Grenzen. Die 36-Jährige arbeitet bevorzugt mit verschiedenfarbigen Tuschen, widmet sich monate-, zuweilen auch jahrelang winzigen Details. Sie liebt das Zeichnen, das Handwerk, das ihr dreckige Hände und beschmierte Shirts beschert und sie stundenlang vor den Werken knien oder stehen lässt. Ihre Motive druckt sie auf Seidenschals, Handtücher oder Bettwäsche, aber auch auf riesige Wandtapeten.
Ginny Litscher liebt, was sie tut – und ist damit äusserst erfolgreich. Auf ihrer Website präsentiert sie reihenweise Artikel aus Vogue, Grazia und den Luxusseiten von Financial Times, NZZ und FAZ. Beinahe nebenbei bemerkt sie, dass sie für Stars der Modebranche wie Vivienne Westwood, Alexander McQueen und Diane von Furstenberg gearbeitet hat, das St. Pancras Hotel in London ausstattete oder dass Lady Gaga und Keira Knightley Seidenschals aus ihrer Kollektion tragen. Stückpreis: 340 Franken.
Kampf um jede Nähmaschine
Als ihr Erfolgsrezept nennt Ginny Litscher Hartnäckigkeit, Neugier und viel Kreativität. An der Hochschule Luzern schloss sie 2006 ihren Bachelor in Textildesign ab, bevor sie einen Master in fashion/print am Central Saint Martin College in London absolvierte.
«Die beiden Schulen sind das glatte Gegenteil voneinander», sagt Ginny Litscher. Hier die «grundsolide, top ausgerüstete Fachhochschule» in Luzern, mit den neuesten Maschinen, einem Webstuhl für jede Studentin und genügend Platz für alle kreativen Ideen. In London mussten sie zu dritt um eine Nähmaschine kämpfen, die dann oft nicht funktionierte. «Es war dreckig und kaputt und hatte von allem zu wenig», sagt Litscher in der Rückschau.
In Luzern lernte sie alle gestalterischen Techniken von Grund auf – in London spielten die keine Rolle. Dafür gab es dort einen harten Konkurrenzkampf, der von der Schule mit zahlreichen Wettbewerben noch gesteigert wurde. Wer allerdings – wie Ginny – einen gewann, der konnte mit Diane von Furstenberg oder für das grosse Kaufhaus Liberty arbeiten.
Textildesign und Kunst zusammendenken
Ginny Litscher bestand den Test, auch weil sie in Luzern gelernt hatte, Gedankenbarrieren niederzureissen. «In meinem Kopf waren Textildesign und Kunst vor meinem Bachelorstudium zwei getrennte Dinge», erzählt sie, «aber unsere Dozentin Pia Schleiss hat jeden dort abgeholt, wo er war, und ihn auf seinem eigenen Weg angetrieben. Sie hat mir gezeigt, dass viel mehr möglich ist.» Noch heute nennt sie die Erkenntnis, dass auf Textildesign auch Kunst prangen und Kunst auf Textil auch kommerziellen Zwecken dienen kann, einen ihrer «Schlüsselmomente».
Den anderen Schlüsselmoment hatte sie, als sie nach dem Londoner Studium im italienischen Udine arbeitete und dort zwei Kollektionen für die Premiere Vision entwarf: eine, von der sie dachte, dass sie kommerziell erfolgreich sein könnte. «Mit vielen Blüemli», erinnert sie sich und lacht. Und die andere, an der ihr Herz hing. Die war düsterer, voller Drachen und Schwerter, zeigte mehr Traum und Vision als Realität. Dann geschah das kleine Wunder: Die Herzensarbeiten interessierten auf der Messe viel mehr als die scheinbar kommerziellen Werke.
Vom Monster überrascht
Die Lehre war deutlich. Bis heute folgt Ginny Litscher voller Selbstvertrauen ihrem eigenen Stil und Weg. Der hat sie nach zehn Jahren in London, einem Jahr im spanischen Coruña bei Zara Home und Inditex wieder zurück in die Schweiz geführt, mit Abstechern nach Paris und New York, wie sich das in der Modebranche gehört.
Inspiration findet sie überall, in der Kunst und im Alltag. Wenn sie ein neues Werk beginnt, hat Ginny Litscher das Resultat schon im Kopf, muss es «nur» abzeichnen; lediglich Details werden dann noch geändert. Sie liebt es, andere, aber auch sich selbst zu überraschen. «Einmal sah ich im fertigen Bild plötzlich Monstergesichter, die ich gar nicht bewusst hineingezeichnet hatte.»
Die Motive werden gescannt oder fotografiert, im Computer neu angeordnet und für Schals oder Wandposter, für T-Shirts, Teller, Bettwäsche oder Handtücher passend gemacht. Neu im Angebot sind auch Schutzmasken. Auch die bedruckt mit Totenköpfen, Widdern, Kriegern und nackten Frauen, die ihren Spass haben.