Andreas Jud, eine SRG-Umfrage zeigte, dass besonders 15- bis 24-Jährige strengere Regeln in der Coronakrise fordern. Überrascht Sie das?
Dass in Krisensituationen insgesamt mehr Sicherheit, Klarheit und Führung gewünscht sind, ist normal. Es überrascht mich, dass dieses Bedürfnis bei den Älteren nicht so ausgeprägt ist. Ich kann nur vermuten, dass die junge Generation mehr Unsicherheit fühlt. Die Bewegung «Fridays for Future» hat schon vor der Epidemie eine Bedrohung zum Thema gemacht: die Klimaveränderung und die Endlichkeit unserer Ressourcen. Vielleicht tragen die Jüngeren schon länger eine Ahnung mit sich herum, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Auf der anderen Seite gibt es Coronapartys, die von Jugendlichen gefeiert werden.
Besonders junge Menschen haben einen ausgeprägten Freiheitsdrang und brauchen sozialen Austausch. Was lösen «Social Distancing»-Massnahmen bei ihnen aus?
Das Austesten von Regeln und Grenzen ist in der Pubertätsphase, also vom 12. bis 15. Lebensjahr, sehr wichtig. Sie fühlen sich unverwundbar und kennen kaum körperliche Grenzen. Hinzu kommt, dass das Verantwortungsgefühl einer gesamten Gesellschaft gegenüber noch nicht sehr ausgeprägt ist. In der aktuellen Situation muss ein ganz normaler Entwicklungsverlauf unterdrückt werden. Das macht die Isolation für Jugendliche so herausfordernd. Sie sitzen im Moment in einem «Warteraum».
«Es ist wichtig, dass der Schulbetrieb weiterhin stattfindet. Es muss klar sein, dass nicht Coronaferien sind.»
Was raten Sie besonders sensiblen Jugendlichen mit Ängsten?
Reaktionen wie Ärger, Rückzug und natürlich auch Angst sind normal bei einer Krise. Das geht fast allen so, das muss man nicht pathologisieren. Heikel wird es bei verdrängten Familienkonflikten, die jetzt sichtbar werden oder bei hinzukommenden Existenzängsten. Zum Beispiel, weil die Eltern um den Job bangen. Da kann viel Druck entstehen, der dann unter Umständen auch zu Gewaltausbrüchen führt. Institutionen, die Hilfe anbieten (siehe Box), nutzen jetzt natürlich auch die digitalen Kanäle.
Klassische Ersatzhandlungen bei Stress, wie Treffen mit Freunden, brechen weg. Was raten Sie, um in der Isolation exzessives Onlineshopping oder Alkoholkonsum zu vermeiden?
Drogen- oder Alkoholkonsum findet bei Jugendlichen eher im Freundeskreis statt. Zu Hause im Familienverband sehe ich das Problem weniger, denn die Kontrolle ist grösser. Und natürlich haben die Eltern eine Vorbildfunktion und den Auftrag, hinzuschauen. Entscheidend für einen gesunden Alltag ist, dass die Routine nicht gänzlich einbricht. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Schulbetrieb weiterhin stattfindet. Es muss klar sein, dass nicht «Coronaferien» sind, sondern es weiterhin Aufgaben gibt, Schülerinnen und Schüler Prüfungen bestehen, einen Studienplatz oder eine Lehrstelle finden müssen. Der Bildungssektor und auch die Eltern sind hier aufgefordert, einen klaren Rahmen zu geben.
«Es lohnt sich, nicht dauernd am Handy zu hängen und jede Minute mit News auszufüllen.»
Was kann jeder für seine eigene und die Psyche anderer tun?
Freundschaften sind sehr wichtig. Sie werden für viele erhalten bleiben, nur eben digital. Kontakt und Austausch finden zum Beispiel über Video-Apps statt – es ändert sich nur das Medium. Die Herausforderung ist, dass Körperkontakt und tröstende Handlungen, eine Umarmung etwa, damit nicht möglich sind. Die Botschaft, dass man bei Schwierigkeiten da ist, kann aber sehr wohl über digitale Medien vermittelt werden.
Welche Möglichkeiten helfen uns sonst noch, mental gesund zu bleiben?
Ruhig auch mal etwas auf die Seite schieben. Verdrängung ist nicht nur ein negativer Mechanismus, sie hat auch eine nützliche Komponente. Es darf auch mal auf Nachrichten verzichtet werden. Es lohnt sich, nicht dauernd am Handy zu hängen und jede Minute mit News auszufüllen. Langeweile und ein temporärer Rückzug können auch förderlich sein. Dadurch entsteht Raum für soziale und persönliche Ressourcen, über die die Meisten nämlich verfügen. Man kommt automatisch auf andere Ideen und kreative Lösungen. Es ist eine gute Zeit, um neue Hobbys zu entdecken oder schon lange Aufgeschobenes endlich zu tun, Stichwort: Zimmer ausmisten.
«Wir werden nicht eins zu eins zum Status Quo zurückkehren können. Die Zeitrechnung wird nach Corona eine neue sein.»
Die junge Generation macht gerade eine sehr einschneidende Erfahrung. Sehen Sie darin auch eine Chance für die Zivilgesellschaft nach überstandener Pandemie?
Die junge Generation kann die Krise nutzen, um Widerstandsfähigkeit aufzubauen. An den Frühling 2020 wird man sich kollektiv erinnern. Ich hoffe auch noch auf weitere positive Aspekte. Die intensive Auseinandersetzung mit der Familie zum Beispiel und mit dem Wert von Freundschaften. Wir erleben gerade hautnah mit, wie sich die Natur erholt, wenn Konsum- und Mobilitätsaktivitäten zurückgefahren werden. Vielleicht überdenkt der eine oder andere seinen Lebensstil.
Was kann man aus diesen Erfahrungen in der Zukunft machen?
Krisen sind Katalysatoren für Veränderungen. Und die wird es im Bereich Wirtschaft, Vorsorgesysteme und globale Produktionsketten geben, davon bin ich überzeugt. Auch Themen wie funktionierende staatliche Strukturen, soziale Absicherung und Wertschätzung von den Trägern dieser Absicherung müssen neu diskutiert und bewertet werden. Wir werden nicht eins zu eins zum Status Quo zurückkehren können und sicher auch nicht wollen. Die Zeitrechnung wird eine neue sein, vor dem Coronvirus und nach Coronavirus.