Andrea Weber Marin, CO2-neutral bis ins Jahr 2050 – das gibt der Bundesrat für die Schweiz vor. Island will bereits 2040 soweit sein. Könnte sich die Schweiz nicht auch ein ehrgeizigeres Ziel setzen?
Als Forscherin muss ich sagen: Nein das Ziel ist ehrgeizig genug. In der Schweiz steht parallel dazu auch der Ausstieg aus der Atomenergie an, wodurch eine Lücke in der Stromversorgung entstehen wird. Nur wenn es gelingt, diese mit erneuerbaren Energien zu füllen, können wir es bis 2050 tatsächlich schaffen, klimaneutral zu sein, wenn wir uns entsprechend anstrengen. Müssen wir dazu jedoch Energie aus dem Ausland importieren, belastet das je nach Stromquelle unsere Energiebilanz – 2050 ist dann nicht zu schaffen.
Für Energiefragen gilt: Längerfristiges Denken lohnt sich auf jeden Fall.
Was muss geschehen, damit wir es schaffen können?
Vieles. Einerseits braucht es entsprechende Aus- und Weiterbildung. Die Wirtschaft muss auf Fachleute zählen können, die den neuesten Stand des Wissens in die Unternehmen tragen – das höre ich im Kontakt mit Forschungspartnern aus der Wirtschaft immer wieder. An der Hochschule Luzern thematisieren wir deshalb Energiefragen in allen technischen Ausbildungen. Ab Herbst 2020 beschäftigt sich unser neuer, interdisziplinärer Studiengang Mobility, Data Science and Economics speziell mit dem Thema Mobilität. Forschung und Innovation sind aber genauso wichtig. Es braucht Leute, die imstande sind, nahe an der Praxis neue Ideen zu finden, die auf bestehende Bedürfnisse antworten. Und schliesslich muss auch jede und jeder Einzelne seinen Beitrag leisten.
Was bedeutet dies für die Forschung?
Es geht in der Forschung nicht nur um das technisch Machbare, sondern auch darum, dass die Lösungen verstanden und akzeptiert werden. Sonnenenergie zum Beispiel wird auf dem Weg zur klimaneutralen Schweiz eine wichtige Rolle spielen. Aber Architektinnen und Hausbesitzer empfinden Solarpanel oft als hässlich und setzen sie deshalb nicht ein. Forscherinnen der Hochschule Luzern aus den Bereichen Technik und Design haben nun gemeinsam eine Möglichkeit entwickelt, Solarpanel zu bedrucken, damit sie ästhetischen Ansprüchen genügen. Mittlerweile sind sie auf dem Markt erhältlich. Noch ein Beispiel: Technisch ist es möglich, die Wärme des Sommers für den Winter zu speichern. Nur verlangt das grosse Speicher, die wertvollen Wohnraum wegnehmen, was natürlich niemand im eigenen Haus will. Wir untersuchen deshalb, wie diese weiterentwickelt werden müssen, damit sie entweder ausserhalb des Hauses untergebracht oder kleiner gemacht werden kann, damit der Wohnraum bestehen bleibt.
Es braucht Leute, die imstande sind, nahe an der Praxis neue Ideen zu finden.
Letzte Woche hat der Ständerat das CO2-Gesetz verschärft und unter anderem Abgaben auf Flugtickets und Benzin beschlossen. Was halten Sie davon?
Aus meiner Sicht sind diese Abgaben nötig als Sensibilisierungsmassnahme. Der Preis, den wir für fossilen Treibstoff bezahlen, bildet nicht die vollen Kosten ab; er klammert Umwelt- und Gesundheitsschäden aus, die dadurch verursacht werden. Lenkungsabgaben sind ein Mittel, um das Bewusstsein für das Gesamtbild zu schärfen.
Zwei Drittel der Energie werden im Bereich Wirtschaft aufgewendet. Unternehmen sind ihrer Natur nach primär an Gewinn orientiert. Wie lassen sie sich zu umweltfreundlicherem Verhalten motivieren?
Unternehmen müssen und sollen Gewinn machen. Für unsere Forschung gilt deshalb immer: Ökologische Lösungen müssen nicht nur der Umwelt dienen, sondern auch eine finanzielle Wertschöpfung generieren. Bei den meisten Projekten, die wir einreichen, gehört der Business-Case dazu. Das Gute daran ist: Energieeinsparungen bedeuten auch finanzielle Einsparungen. Oft amortisiert sich eine Anpassung innerhalb weniger Jahre.
Es braucht entsprechende Aus- und Weiterbildung zum Thema Energie. Die Wirtschaft muss auf Fachleute zählen können, die den neuesten Stand des Wissens in die Unternehmen tragen.
Bis jetzt decken die erneuerbaren Energien nur knapp 25 Prozent unseres Energieverbrauchs. Warum sind wir nicht weiter?
Zwar ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, die Energieeffizienz zu steigern, doch das Bevölkerungswachstum in der Schweiz – in den letzten zehn Jahren über eine Million Menschen – bewirkt, dass der Energieverbrauch trotzdem nicht zurückgeht. Wir müssen also Lösungen finden, um trotz wachsender Bevölkerung weniger Energie zu verbrauchen. Nun bedeutet eine Steigerung der Energieeffizienz eine Investition, die sich erst amortisiert, wenn man längerfristig rechnet – unabhängig davon, ob es sich um Privathäuser, ganze Häuserparks oder um Industrieunternehmen handelt. Denkt ein Unternehmen nur bis zur nächsten Jahresbilanz, wird das problematisch. Einen Zeithorizont von etwa fünf Jahren braucht es hier schon. Geht es um Neubauten, so gilt sogar noch mehr, dass längerfristiges Denken sich lohnt, da der Neubau nur etwa 20 Prozent der Kosten verursacht. Der Rest entsteht im Verlauf seines Lebenszyklus durch den Unterhalt. Oft kann dieser Anteil beträchtlich reduziert werden, wenn man Beginn klug investiert, zum Beispiel bei der Wahl der Materialien.
Ich bin überzeugt, dass die Bereitschaft da ist, etwas zu verändern.
Sie haben Ihr eigenes Haus energetisch saniert. Was haben Sie dafür unternommen?
Mein Ziel war, CO2-neutral Wärme aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen. Ein Kollege hat abgeklärt, ob sich die Installation von Photovoltaik-Panelen bei mir energetisch respektive ökonomisch lohnt. Das war nicht der Fall. Ich habe mich dann für eine Luft-Wärme-Wasserpumpe entschieden und bin auf Strom aus Wasserkraft umgestiegen. Die neutrale Unterstützung der Kollegen der Hochschule war Gold wert, um eine informierte Entscheidung zu fällen, denn es war selbst für mich als Fachfrau nicht ganz einfach, unter den verschiedenen Möglichkeiten die effizienteste zu finden. Das hat mich bestätigt in der Überzeugung, dass im Bereich der Kommunikation Handlungsbedarf besteht. Das ist eine Aufgabe, die wir im Dreieck Hochschule – Wirtschaft/Politik – Endkundinnen und -kunden lösen müssen. Ich bin überzeugt, dass die Bereitschaft da ist, etwas zu verändern, aber ohne verständliche Information zu den oft komplexen Energiethemen wird es für die Einzelnen und für Unternehmen schwierig, entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Hochschulen müssen also nicht nur technische Lösungen finden, sondern auch an ihrer Kommunikation beteiligt sein?
Ja. Bei uns ist das Thema präsent in Forschungs- und Entwicklungsprojekten, die wir gemeinsam mit Unternehmen oder Gemeinden durchführen, aber auch in internationalen Gremien. Das Departement Technik & Architektur hat zum Beispiel für die Industrie das Analysetool PinCH entwickelt, das Ingenieurinnen und Ingenieure einfach bedienen können, das aber hoch komplexe Berechnungen ausführt, die aufzeigen, ob und wie eine Optimierung wirtschaftlich ist. Weiter hat das Departement Wirtschaft einen Leitfaden für Gemeinden erstellt, wie sie Einwohnerinnen und Einwohner gezielt zu umweltfreundlicherem Verhalten motivieren können. Für Hausbesitzende entwickeln wir gerade gemeinsam mit anderen europäischen Ländern eine Plattform, die anhand von wenigen Angaben wie Baujahr und Standort schon wichtige Hinweise auf sinnvolle Sanierungslösungen gibt, die aber auch von Fachleuten für weiterführende Berechnungen eingesetzt werden kann.
Im Bereich Kommunikation besteht Handlungsbedarf.
Wie steht die Zentralschweiz im Vergleich zur gesamten Schweiz da?
In absoluten Zahlen ist das schwierig zu sagen. Es gibt jedoch einige Leuchtturmprojekte, die zeigen, dass Kanton, Unternehmen und Bauherren das Thema ernst nehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Initiative der EWL-Tochter Seenergy Luzern AG, die die Wärme- und Kälteversorgung in Horw und Kriens mit Hilfe von Seewasser sicherstellen will. Ein weiteres Beispiel ist die Suurstoffi in Rotkreuz. Mit V-Zug ist ein durchaus gewinnorientiertes Unternehmen die Bauherrin. Trotzdem hat es sich selbst eine Zero-Strategie auferlegt: ein Wärmenetz für das gesamte Areal. Das Erfreuliche ist, es wird sich für sie auch auszahlen. Nicht zuletzt gibt es das Unternehmernetzwerk NeLu, das Unternehmen vereinigt, die sich auf innovative Weise für eine nachhaltige Energieversorgung einsetzen.
Was kann die kleine Schweiz überhaupt dazu beitragen, die weltweite Klimaerwärmung zu stoppen?
Unser Wissen und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, sind unser Kapital. Das vermittelt die Schweiz, und hier strahlt unsere Arbeit auch ins Ausland aus. Das zeigt sich an der Anzahl von Patenten, aber auch an den Ratings unserer Hochschulen in der Schweiz. Wir können hier Erkenntnisse generieren, die die ganze Welt verwenden kann. Das ist das Schöne an der Forschung.