Faire Chancen für die Kleinsten

Wie sich Kinder entwickeln, hängt stark von ihrem Umfeld ab. Eine frühe Förderung mindert ungleiche Startbedingungen. Psychologin Claudia Meier Magistretti von der Hochschule Luzern über erschöpfte Eltern, den Sandkasten als Lebensschule und die Vorteile der Frühförderung für die Gesellschaft.

Kinder spielen in der Kita.

Claudia Meier Magistretti, Sie sagen, frühe Förderung von Kindern sollte nicht erst im Vorschulalter, sondern bereits kurz nach der Geburt beginnen. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?

Kleine Kinder werden in der Regel in die soziale Ungleichheit hineingeboren. Und ihre Situation verschlechtert sich im späteren Leben, wenn nicht möglichst schnell etwas dagegen unternommen wird. Je früher die Förderung ansetzt, desto eher kann verhindert werden, dass die soziale Schere noch weiter auseinandergeht. Deshalb sind die ersten Jahre nach der Geburt entscheidend.

Wie sieht diese Form von früher Förderung aus?

Ich kann das an einem Beispiel aufzeigen. In ärmeren Quartieren gibt es viel weniger gute Spielplätze als in Quartieren, in denen vor allem Familien aus der Mittelschicht leben. Das zeigen nicht nur Studien, sondern das hat auch eine Befragung von Eltern mit kleinen Kindern bestätigt, die wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts durchgeführt haben. Viele belastete Familien haben sich mehr Spielplätze in der Nähe ihrer Wohnumgebung gewünscht. Und genau da beginnt frühe Förderung. Es geht nicht darum, die Kinder ins Frühenglisch oder ins Babyschwimmen zu schicken. Sondern es geht als erstes einmal darum, ihnen gute Bedingungen zum Aufwachsen zu geben – und dazu gehört das Spielen mit anderen Kindern und ihren Eltern in einem sauberen Sandkasten.

«Es geht nicht darum, die Kinder ins Frühenglisch oder ins Babyschwimmen zu schicken.»

Was lernen denn Kinder im Sandkasten?

Im Sandkasten lernen die Kinder den sozialen Umgang mit anderen Kindern. Sie lernen mit Frustration umzugehen, wenn ihnen ein anderes Kind das «Schüfeli» wegnimmt. Sie lernen, Kontakte zu knüpfen und die Bedürfnisse anderer Menschen ernst zu nehmen. Bei der Frühförderung geht es in erster Linie um die soziale, emotionale Entwicklung des Kindes – und nicht primär um das Erlernen von kognitiven Fähigkeiten. Wenn das Kind mit kleinen, mittleren und grossen Förmchen spielt, eignet es sich natürlich einen ersten Mengen- und Verhältnisbegriff an. Das fördert zusätzlich auch kognitiv-mathematische Fähigkeiten, auf denen es später in der Schule aufbauen kann.

Es braucht also mehr Spielplätze? Das tönt fast ein bisschen zu einfach.

Begegnungsräume für kleine Kinder zu schaffen, ist ein erster Schritt. Die besten Spielplätze nützen einem Kind nichts, wenn die Eltern keine Zeit haben, um mit ihm dahin zu gehen. Gerade in sozial schwächeren Familien ist Zeit ein echt kritischer Faktor. Viele der Eltern sind alleinerziehend oder beide Elternteile arbeiten Vollzeit. Oft haben sie auch noch einen zusätzlichen Nebenjob. Da bleibt oft keine Stunde übrig, um mit den Kindern zu spielen oder sie irgendwohin zu fahren. In der Stadt Bern gibt es zum Beispiel einen Quartiertreff, der die Kinder von belasteten Familien abholt, um sie zum Sport zu bringen. Solche Angebote sind genial – aber natürlich auch aufwendig.

Also geht es vor allem darum, benachteiligte Familien beim Managen ihres Alltags zu unterstützen?

Das ist ein wesentlicher Teil davon. Unsere Befragung hat gezeigt: Sozial benachteiligte Familien und vor allem Familien in Sozialhilfe brauchen und wollen Unterstützung, um ihren Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen. Aber sie haben grosse Mühe, an bestehende Hilfsangebote heran zu kommen. Sie müssen das selbst in die Hand nehmen und Zeit und Geld dafür aufwenden. Das übersteigt oftmals die Kräfte solcher Familien.

«Mir war nicht klar, wie viele Familien bei der Erziehung an ihre Grenzen stossen.»

Was müsste hier getan werden?

In der Schweiz intervenieren die Behörden in der Regel erst dann aktiv, wenn die Eltern etwas falsch gemacht haben. Es wäre aber wichtig, bereits früher einzugreifen. So wie das beispielsweise in Deutschland der Fall ist. Dort haben alle Eltern ein grundsätzliches Recht auf Unterstützung – zum Beispiel in Form von begleiteter Früher Hilfe oder einer begleiteten Elternschaft.

Spielend lernen

Was ist unter begleiteter Hilfe zu verstehen? Das tönt fast nach Bevormundung.

Nehmen wir als Beispiel eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Eine alleinerziehende Mutter läuft oft am Limit. Wenn sie einmal aus gesundheitlichen Gründen ausfällt oder sonst etwas Unvorhergesehenes passiert, hat sie ein Problem. Für solche Situationen gibt es in der Schweiz keine institutionalisierten Angebote, die allen Familien zugänglich sind. Hier bräuchte es eine Vertrauensperson, welche der Familie im Alltag und in Notsituationen zur Seite steht und die Mutter entlasten kann. Mit Bevormundung hat das nichts zu tun. Solche Eltern wollen in der Regel unterstützt werden. Die Gespräche mit den Familien im Rahmen unserer Studie haben mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Mir war nicht klar, wie viele Familien bei der Erziehung ihrer kleinen Kinder an ihre Grenzen stossen. Viele junge Eltern leiden deshalb auch an chronischer Erschöpfung oder an psychosomatischen Problemen. Ein einfach zugängliches System für die frühe Förderung wäre für diese Familien eine riesige Entlastung – und würde ihren Kindern eine faire Chance für die Zukunft geben.

«Frühe Förderung ist auch Prävention. Ein Gefängnisplatz kostet mehr als ein Kitaplatz.»

Was braucht es, um belastete Familien besser unterstützen zu können?

Oft fehlt das Verständnis, dass es verschiedene Formen von sozialen Belastungen gibt. Solche Belastungen können nicht in einem halbstündigen Gespräch eruiert werden. Es braucht eine enge Begleitung der Familien. Das zeigt eine Geschichte, die uns eine junge Mutter während einer Befragung erzählt hat. Sie war beim Sozialdienst ihrer Gemeinde und hat einen Spielgruppenplatz für ihr Kind beantragt. Damit wollte sie ihr Kind für den bevorstehenden Kindergarteneintritt vorbereiten. Der Antrag wurde abgelehnt – mit der Begründung, die Mutter arbeite ja Teilzeit und hätte genug Zeit, sich um ihr Kind zu kümmern. In welcher emotionalen oder psychischen Situation sich die Mutter befindet und was für das Kind förderlich wäre, hat beim Entscheid des Sozialdienstes offenbar keine Rolle gespielt. Hier fehlt etwas die Sensibilität, um zu wissen, wann Familien Unterstützung nötig hätten

Ist denn Kindererziehung wirklich Aufgabe der Öffentlichkeit?

Die Erziehung per se nicht. Es ist aber Aufgabe der Öffentlichkeit, allen Kindern faire Bedingungen zum Aufwachsen zu geben. Es gibt unzählige Studien, die belegen, dass faire Startbedingungen die Produktivität und Gesundheit einer Gesellschaft fördern. Und in kaum einem anderen Bereich kann man so früh auf die Chancengleichheit einwirken wie bei der Kindererziehung. Dabei geht es darum, unseren kleinsten Mitmenschen eine Entwicklung zu gesunden, produktiven und zufriedenen Individuen zu ermöglichen. Frühe Förderung ist aber auch Prävention. Etwas überspitzt kann man sagen: Ein Gefängnisplatz kostet mehr als ein Kitaplatz. Langfristig profitiert von früher Förderung die ganze Gesellschaft.

Studie «Angebote der Frühen Förderung in Schweizer Städten»

Die Studie «Angebote der Frühen Förderung in Schweizer Städten» der Hochschule Luzern und der Karl-Franzens-Universität Graz beleuchtet erstmals umfassend den Nutzen und die Bedürfnisse der Eltern bei der frühen Förderung von Kleinkindern. Dafür haben die Studienautorinnen 2019 bei 498 Familien aus neun Schweizer Gemeinden eine Befragung durchgeführt. Befragt wurden Familien aus der Mittelschicht, Familien in Sozialhilfe und Familien mit Migrationshintergrund. Die Studie gibt Aufschluss darüber, wie Eltern die öffentlichen Angebote nutzen, inwiefern die Leistungen ihren Bedürfnissen entsprechen und wo Unterschiede bei der Nutzung zwischen den Bevölkerungsgruppen bestehen.

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