Daniel Kunz, Sie beschäftigen sich seit bald 30 Jahren intensiv mit dem Thema «sexuelle Gesundheit» – haben Sie in der historischen Aufarbeitung von Brigitte Ruckstuhl und Elisabeth Ryter noch Überraschendes entdecken können?
Eines meiner Schwerpunktthemen ist die institutionelle Sexualaufklärung. Mit Erstaunen musste ich feststellen, dass die Argumente der Befürworter die gleichen sind wie vor hundert Jahren: Information und Bildung als Voraussetzung dafür, selbstbewusst und selbstbestimmt mit dem eigenen Körper umzugehen. Die Gegner bringen übrigens ebenfalls die gleichen Argumente wie in den 1920er Jahren: Sie fürchten die Frühsexualisierung und den gesellschaftlichen Verfall.
Was hält die Wissenschaft dem entgegen?
Keines der Szenarien der Gegner ist jemals eingetreten: Jugendliche sind weder wesentlich früher sexuell aktiv, noch neigen sie zu Promiskuität. Die Sehnsucht nach traditionellen Formen des Zusammenlebens, nach einer Familie ist sogar stärker ausgeprägt als vor 20, 30 Jahren. Heiraten nach traditioneller Zeremonie steht wieder hoch in Kurs.
Welche Entwicklungen haben unser Verständnis von Sexualität fundamental verändert?
Das waren zweifellos die Emanzipationsbewegungen: zunächst einmal die Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Diese setzte sich für die politischen Rechte sowie das Recht auf individuelle Selbstbestimmung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung ein. Daran knüpften die Frauen der zweiten Bewegung Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wieder an. Mit der Parole «Mein Bauch gehört mir» wiesen sie die Herrschaftsinstanzen Recht und Medizin in die Schranken. Sie waren Wegbereiterinnen der Schwulen- und Lesbenbewegung und in neuerer Zeit der Trans- und Intermenschen, die eine Fremddefinition ihrer Körper auch nicht länger hinnehmen wollen.
Was veränderte sich mit der Antibabypille?
Sie ermöglichte es den Frauen erstmals, Sexualität ohne Angst vor Schwangerschaft zu leben. Die Trennung von Sexualität und Reproduktion war ein fundamentaler Einschnitt. Die medizintechnische Entwicklung hat ohnehin einen grossen Einfluss auf unseren Umgang mit Sexualität.
Welche Rolle spielt die Reproduktionsmedizin?
Durch technische Möglichkeiten werden Grenzen, die früher die Biologie setzte, verschoben. Kinder können im Reagenzglas gezeugt und Samen oder Eizellen für den späteren Gebrauch eingefroren werden, Frauen jenseits der Menopause tragen Kinder aus, Leihmütter ermöglichen den Kinderwunsch von hetero- und homosexuellen Paaren.
In der Schweiz ist das nicht erlaubt.
Tatsächlich ist Leihmutterschaft umstritten. Aber wir sind gefordert, uns mit ethischen Dimensionen auseinanderzusetzen. Was von dem, was möglich ist, soll auch erlaubt sein? Wir können nicht bei wissenschaftlich-technischen Lösungen für Wünsche und Bedürfnisse stehenbleiben, wir müssen auch soziale und ethische Antworten finden.
Wie sehen Sie die Zukunft von Sexualität im Cyberspace? Wie wird uns Virtualität beeinflussen?
Bereits heute gibt es animierte Puppen, so dass zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse kein anderes menschliches Wesen mehr erforderlich ist. Es gibt Stimmen, die diesen Puppen eine eigene Persönlichkeit zusprechen und folgerichtig verlangen, dass sie als Individuen von der Gesellschaft behandelt werden. Daneben werden heute grosse Summen in die Entwicklung von 3-D-Pornos investiert. Die Folgen sind aktuell nur schwer abzuschätzen, aber auch hier sind wir gefordert, uns in jedem Fall mit den ethischen Dimensionen auseinanderzusetzen.
Sie lehren und forschen zum Thema «sexuelle Gesundheit». Was genau ist darunter zu verstehen?
Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO umfasst Sexualität neben biologischen auch psychische und soziale Aspekte. Sexuelle Gesundheit ist nur dann gewährleistet, wenn sexuelle Rechte anerkannt sind, wenn also alle Menschen unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung oder Lebensform ihre Bedürfnisse leben können. Untrennbar verbunden mit sexuellen Rechten ist jedoch die soziale Verantwortung. Meine Rechte hören da auf, wo das Recht meines Gegenübers auf Selbstbestimmung beginnt.
In der westlichen Welt halten wir uns für aufgeklärt. Sind wir das wirklich?
Wir hatten noch nie so viele und qualitativ gute Informationen zu Innenansichten von Beziehungen, sexuellen Praktiken und Vorlieben und zur allgemeinen sexuellen Gesundheit. Daraus nun aber zu schliessen, dass überall Toleranz herrscht und Vielfalt als Chance gesehen wird, ist zu kurz gegriffen.
Wo orten Sie noch gewisse Tabus?
Auch in unserer Gesellschaft gibt es traditionelle, religiös geprägte Milieus, in der die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die Wahlfreiheit der Lebens- und Liebesform immer noch in Frage gestellt werden.
Tabus, die sich durch die gesamte Gesellschaft ziehen, gibt es nicht mehr?
Vielleicht noch am ehesten im Hinblick auf sexuelle Bedürfnisse von alten Menschen und Menschen mit Behinderung. Tabus nehme ich vor allem auf der «Mikroebene» im privaten Raum wahr. Obwohl Sexualität und sexuelle Praktiken scheinbar tabulos in den traditionellen und in den sozialen Medien thematisiert werden, tut man sich in vielen Partnerschaften schwer, für sexualitätsbezogene Themen eine Sprache zu finden und sich über sexuelle Bedürfnisse auszutauschen.