An einem Samstagmorgen im Januar um 8:45 Uhr: In wenigen Minuten beginnen die Prüfungen am Departement Wirtschaft der Hochschule Luzern und mit jedem Schritt in Richtung Hörsaal scheint die Nervosität der Studierenden zu steigen. Während die einen noch ein letztes Mal die Notizen überfliegen, schliessen andere die Augen und bereiten sich mental auf die kommende Stunde vor. Beim Eintreten in den Saal erwartet man intuitiv auf die strengen Blicke der Prüfungsaufsicht zu treffen. Stattdessen aber gibt es ein aufgestelltes «Guten Morgen» mit einem fröhlichen Lächeln. Denn da stehen Pia (63 Jahre) und Jo (72 Jahre). Beide sind im Ruhestand und unterstützen die Dozierenden diesen Morgen bei der Prüfungsaufsicht.
Pia ist Pflegefachfrau in Frühpension, passionierte Fasnächtlerin und aktiv in der Nachbarschaftshilfe und in Genossenschaften. Jo kommt aus dem Strassentransport-Gewerbe, war vor seiner Pensionierung Weiterbildungsleiter und fährt seit Jahren donnerstags jeweils Tixi Taxi. Beide meldeten sich auf ein Pro-Senectute-Inserat beim Departement Wirtschaft, wo Unterstützung für die Prüfungsaufsicht gesucht wurde.
Die berufliche und private Vergangenheit der beiden überrascht Mario Störkle überhaupt nicht. Der Soziologe forscht am Departement Soziale Arbeit der HSLU zum freiwilligen Engagement von älteren Menschen und kennt die Merkmale der typischen Helferinnen und Helfer gut: «Sie sind meistens bereits Engagement-erprobt und machen nach der Pensionierung da weiter, wo sie schon vorher aktiv waren – in Vereinen oder bei Organisationen», so Störkle.
Ältere Menschen engagieren sich besonders häufig
Überhaupt ist die hiesige Bevölkerung sehr engagiert, wie Erhebungen des Freiwilligen-Monitors Schweiz aus dem Jahr 2020 belegen. Rund 94 Prozent sind in irgendeiner Form zum Wohle anderer tätig. Dazu zählt auch das Spenden, sei es Geld oder Blut. 62 Prozent der Bevölkerung leistet Freiwilligenarbeit – vom Mitwirken im Verein bis zum Hüten der Enkelkinder. Bei der formellen Freiwilligenarbeit, also der gemeinnützigen Arbeit in einem Verein oder für eine Organisation, sind es 39 Prozent. In diese Kategorie fällt auch die Prüfungsaufsicht von Pia und Jo. Formelle Freiwilligenarbeit hängt stark mit dem sozialen Status zusammen: So leisten Personen mit höherem Bildungsstand und höherem Einkommen auch tendenziell mehr formelle Freiwilligenarbeit – Männer etwas mehr als Frauen. Den höchsten Anteil findet man in der Altersgruppe der 60- bis -74-Jährigen: Fast die Hälfte dieser Menschen leistet formelle Freiwilligenarbeit.
Fast jede zweite Person leistet informelle Freiwilligenarbeit
Rund die Hälfte der Bevölkerung leistet informelle Freiwilligenarbeit, sprich Freiwilligenarbeit ausserhalb von Vereinen oder Organisationen; Beispiele dafür sind Care-Arbeit, also das Pflegen oder Betreuen von Personen. Schwierig gestaltet sich hier die Abgrenzung zur Haus- und Familienarbeit. Zur informellen Freiwilligenarbeit wird in diesem Fall auch die Arbeit innerhalb der Familie gezählt, wenn diese nicht den eigenen Haushalt betrifft.
Egal wo man die Grenzen zieht, ein Merkmal ist gleichbleibend: Den grössten Anteil findet man bei den 60- bis -74-Jährigen. Im Gegensatz zur formellen Freiwilligenarbeit wirken sich Bildung und Einkommen nicht stark auf das Ausüben der informellen Freiwilligenarbeit aus. Unterschiede zeigen sich auch hier beim Geschlecht: 52 Prozent der Frauen leisten informelle Freiwilligenarbeit; bei den Männern sind es mit 39 Prozent rund ein Fünftel weniger. Der Geschlechterunterschied ist hier doppelt so gross wie bei der formellen Freiwilligenarbeit.
Die Suche nach Kontinuität
Klar – im Ruhestand hat man tendenziell mehr Zeit. Wer dieses hohe Engagement aber lediglich auf die nach Beendigung der Berufstätigkeit nun freien Zeit zurückführt, der kratze nur an der Oberfläche, so Störkle: «Die Motivation ist vielseitig und reicht vom Wohlwollen über Neugierde bis hin zum Pflichtgefühl.»
Die unterschiedlichen Motive zeigen sich auch bei den beiden Prüfungsaufsichten. Pia beschreibt sich selbst als neugierige Person. Sie mag es, in neue Bereiche reinzuschauen und dabei Kontakt zu jungen Menschen zu haben und ihnen zu helfen. Jo will «einfach drin bleiben». Man bleibe selbst jünger, wenn man mitbekäme, was andere machen und leisten. Er engagierte sich ausserdem schon für Tixi Taxi als seine mittlerweile verstorbene Frau in den Rollstuhl kam. Störkle sieht bei beiden eines der häufigsten und eher unbewussten Motive: die Suche nach Kontinuität. Der Mensch sei ein Gewohnheitstier – sei es wie bei Jo, der sich bereits vor dem Ruhestand engagierte und zudem im Bildungsbereich tätig war und deshalb mit Prüfungssituationen vertraut ist, oder sei es wie bei Pia, die sich als Pflegefachfrau während ihrer gesamten beruflichen Karriere für das Wohlergehen anderer einsetzte. Beide wirken ausserdem schon länger in Vereinen mit. Für viele frisch Pensionierte ist diese Kontinuität ein wichtiger Pfeiler, wenn durch den Ruhestand plötzlich ein Grossteil des Kalenders leer bleibt.
«Es ist auch ok, nichts zu machen»
Freiwilligenarbeit kann dazu beitragen, das Selbstwertgefühl und die Lebenszufriedenheit zu steigern. Dies kann sich positiv auf sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit auswirken. Aber wie freiwillig ist die Freiwilligkeit, wenn die Gesellschaft ein gewisses Engagement von älteren Menschen schon fast erwartet? Störkle kennt die Problematik. In der Schweiz mit ihrer ausgeprägten Vereinskultur bestehe auch ein gewisser Druck, sich zu engagieren, sei es aus dem direkten Umfeld oder von innen heraus, aus dem Gefühl einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Der Soziologe sieht auch die Medien in der Verantwortung: «Oft liest man nur über eine Überalterung und die dadurch verursachten Kosten, ob im Gesundheitswesen oder der AHV.» Man dürfe trotz allem Engagement aber die Heterogenität im Alter nicht vergessen, betont Störkle. «Nicht jede ältere Person will oder kann sich engagieren. Es ist auch ok, nichts zu machen. Schliesslich heisst es ja auch Ruhestand.»
Das hohe Engagement hat aber auch zu einer gewissen, fast unsichtbaren Abhängigkeit geführt – gerade im Bereich der Care-Arbeit. Und dann kam Corona. «Auf einen Schlag musste ein Grossteil der Freiwilligen als Teil der Risikogruppe zu Hause bleiben. Das war ein grosser Einschnitt für Fahrdienste, Essensdienste, Nachbarschaftshilfen und dergleichen», sagt Störkle. In einer Studie im Jahr 2021 hat er gemeinsam mit anderen Forschenden der HSLU das freiwillige Engagement älterer Menschen während Corona untersucht. Auch wenn die meisten ihre Arbeit nur pausiert hatten, gaben rund ein Viertel der Befragten an, ihre freiwilligen Tätigkeiten dauerhaft eingestellt zu haben. Während der Coronapandemie wurde deutlich, was viele vermuten konnten: Unsere Gesellschaft ist auf dieses freiwillige Engagement von älteren Menschen ein Stück weit angewiesen – was den Druck nicht gerade mindert.
Von diesem Druck wollen Pia und Jo aber nichts wissen. Es sei vielmehr in der Verantwortung jedes Mitglieds unserer Gesellschaft einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Freiwilligenarbeit gehöre dazu, egal ob jung oder alt. Und wenn man mehr Zeit hätte, dann sei es angemessen, diese sinnvoll zu nutzen. Sie beide schätzen zudem die Möglichkeiten, ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben – und in diesem Fall junge Studierende auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen. Und wenn es auch nur durch ein warmes Lächeln vor Prüfungsbeginn ist und man ihnen so ein gutes Gefühl vermitteln kann.