«Wohnen findet nicht nur in der Wohnung statt»

Das Wechselspiel von öffentlichem und privatem Raum ist für die Lebens- und Wohnqualität in einer Überbauung zentral. Angelika Juppien und Richard Zemp von der Hochschule Luzern haben erforscht, wie es gelingen kann.

Der Blick auf den Fluss lenkt von den Fenstern ab.

Der Blick auf den Fluss lenkt von den Fenstern ab.

Das Projekt «Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten» beleuchtet, wie Planerinnen und Architekten dazu beitragen, dass Verdichtung akzeptiert wird. Unterstützt wurde es von Innosuisse, Partnern aus der Wirtschaft und der öffentlichen Hand.

Angelika Juppien, Richard Zemp, was hat Sie zur Beschäftigung mit dem Thema motiviert?

Richard Zemp: Wir stellten fest, dass es in den Diskussionen um Verdichtung häufig mehr um Ausnützungsberechnungen geht als darum, was das Näherrücken für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutet. Wir wollten mit unserer Arbeit kreative Impulse in die Debatte um die Zwischenräume bringen, indem wir fragten, was dazu führt, dass Bewohnerinnen und Bewohner die Dichte als Qualität erleben können.

Probleme einer Wohnung können durch ein vielfältiges Nutzungsangebot in der Siedlung oder durch Angebote im nahen Quartier kompensiert werden können.

Angelika Juppien

Wie sind Sie in das Projekt gestartet?

Angelika Juppien: Uns interessierte, wie die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Wohnsituation wahrnehmen und wie sie die Spielräume nutzen, mit denen sie den Austausch mit der Nachbarschaft und den Rückzug ins Private regulieren können. Zunächst ging es darum, zu beschreiben, was wir vorfanden. Deshalb fingen wir mit ausführlichen Begehungen der neun untersuchten Siedlungen an. Die Fotokamera wurde dabei zur wichtigen Begleiterin, weil Bilder oft aussagekräftiger sind als lange Beschreibungen. Anschliessend führten wir Gruppen- und Einzelgespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern.

Das Resultat der Studie war keine Handlungsanweisung, sondern ein «Vokabular des Zwischenraums», das im kommenden Jahr als Buch publiziert wird. Sie stellen darin sieben Begriffe vor, die das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit charakterisieren. Könnten Sie dafür einige Beispiele geben?

Angelika Juppien: Genau, es sind sieben Begriffe: Porosität, Tarnung, Alternativen, Ambivalenz, Intermezzo, Kompensation und Flirt. Nehmen wir zum Beispiel «Porosität», ein Begriff, der aus der Physik stammt und das Verhältnis von Hohlraum zu Festkörper beschreibt. Wir beziehen diese Eigenschaft auf die gesamte Struktur einer Siedlung. Durch Form und Anordnung der Gebäude entstehen Gassen und Freiräume. Wo es ein Wechselspiel von Enge und Weite, von intimen Ecken und öffentlicheren Räumen gibt, fühlen sich die Bewohnerinnen und Bewohner wohler, weil es die Möglichkeit gibt, Rückzug und Austausch zu regulieren.
Richard Zemp: «Tarnung» ist eine Strategie, die den Blick so gut als möglich auf der Oberfläche der Gebäude hält und ihn dadurch von den Wohnungen ablenkt. Ein schönes Beispiel dafür ist eine Siedlung, in der die Gebäude ein grosses Tor bilden, das den Blick auf den Fluss dahinter steuert und so von den Fenstern weglenkt.

In den Diskussionen um Verdichtung geht es häufig mehr um Ausnützungsberechnungen als darum, was das Näherrücken für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutet.

Richard Zemp

Und welches Konzept verbirgt sich hinter dem Begriff «Alternativen»?

Richard Zemp: Alternativen geben Wahlfreiheit und damit auch das Gefühl, die eigene Umgebung ein Stück weit kontrollieren zu können. Dieses Gefühl von Kontrolle über den eigenen Raum ist zentral, damit eine dichte Bebauung auf Akzeptanz stossen kann. Da war zum Beispiel die Bewohnerin eines Hauses mit zwei Eingängen. Sie benutzte immer den Hinterausgang, weil sie auf diese Weise Begegnungen mit den Nachbarn vermeiden konnte. Andere Bewohner haben uns erzählt, dass sie froh sind, Zimmer sowohl auf den Hof als auch auf die Strasse hin zu haben. Die anonymere Strassenseite ist für sie die privatere.
Angelika Juppien: Ziel des Vokabulars ist es nicht, dass bei der Planung einer Siedlung alle Begriffe einzeln abgearbeitet werden. Wir verstehen sie als Denkanstösse – es geht darum, sie in Beziehung zueinander zu setzen. Sie erweitern den Blick über die Fassade hinaus auf das ganze Quartier.

Weshalb?

Angelika Juppien: Wohnen findet ja nicht nur in der Wohnung, sondern auch vor dem Haus und in der Umgebung statt. In zahlreichen Gesprächen zeigte sich, dass Probleme einer Wohnung durch ein vielfältiges Nutzungsangebot in der Siedlung oder durch Angebote im nahen Quartier kompensiert werden können. So störte sich zum Beispiel ein Bewohner nicht daran, dass seine Fenster alle auf einen Hof mit lautem Kinderspielplatz gingen, weil er die Möglichkeit hatte, zum Arbeiten in die Bibliothek gleich um die Ecke auszuweichen. Das Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass Grundriss und Aussenraum aufeinander abgestimmt sind. Hätte er ein Zimmer, das auf eine andere Hausseite geht, könnte der Bewohner dem lauten Kinderspielplatz in der eigenen Wohnung ausweichen.
Angelika Juppien: Es geht eben nicht um die isolierte Betrachtung von Bauteilen, sondern um das gelungene Wechselspiel verschiedener Elemente, vom Wohnungsgrundriss bis hin zum Quartier.

Das Gefühl, die eigene Umgebung ein Stück weit kontrollieren zu können, ist zentral, damit eine dichte Bebauung auf Akzeptanz stossen kann.

Richard Zemp

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