Jürg Stettler, noch ist das Reisen stark eingeschränkt. Wo dürfen wir als erstes mit Entspannung rechnen?
Die meisten Nachbarländer und verschiedene Reiseziele in Europa können bereits heute mit einem negativen Corona-Test ohne erhebliche Einschränkungen bereist werden. Als nächstes dürften Reisen in die übrigen europäischen Länder folgen.
Wo wird es noch lange dauern?
Interkontinentale Reisen sind anspruchsvoller, weil wir es da in der Regel mit komplexen Reiseketten mit Umsteigen und Zwischenstopps in verschiedenen Ländern zu tun haben. Länger dauern wird es daher wohl mit Reisen nach Asien oder Ozeanien. Gerade China und Australien sind momentan aufgrund der sehr restriktiven Quarantänebestimmungen für den normalen Tourismusverkehr so gut wie abgeriegelt. Das wird sich Stand heute auch nicht so schnell ändern.
«Interkontinentale Reisen sind anspruchsvoller, weil wir es da mit komplexen Reiseketten zu tun haben.»
Wann werden wir wieder so verreisen können wie vor der Corona-Pandemie?
Das wird dauern. Bislang waren wir es uns gewohnt, ganz spontan rund um die Welt zu fliegen. Das Virus hat das Reisen aber komplizierter gemacht. Viele Regulierungen wie die Maskenpflicht, Quarantäneregelungen und Impfvorschriften werden uns bei grenzüberscheitenden Reisen noch lange begleiten. Hinzu kommen regionale Unterschiede, die in den Buchungsprozess miteinbezogen werden müssen. Sich heute für eine beliebige Destination irgendwo auf der Welt entscheiden und morgen abreisen, das dürfte in der nächsten Zeit kaum möglich sein.
Können Sie eine zeitliche Prognose wagen?
Solche Prognosen sind schwierig. Wir können nur mit komplexen Wenn-Dann-Szenarien arbeiten. Wenn ein Impfpass wie von der EU oder auch vom Bundesamt für Gesundheit vorgesehen bis im Sommer realisiert werden kann und in den nächsten Monaten genug Impfungen verfügbar sind, dann sieht es für die Sommerferien ganz gut aus – zumindest, was das Reisen innerhalb Europas betrifft. Der aktualisierte Impfplan des Bundes lässt hier aber bereits erste Zweifel aufkommen. Ob alle Impfwilligen bis im Juli ihre für den Impfpass nötige zweite Impfung erhalten, ist zurzeit eher unwahrscheinlich. Eine Voraussetzung dafür ist auch, dass der Impfpass aus technischer Hinsicht bis dann überhaupt zur Verfügung steht.
«Wenn ein Impfpass bis im Sommer realisiert werden kann, dann sieht es mit den Sommerferien ganz gut aus.»
Das heisst: Ohne Impfpass keine Ferien?
Der Impfausweis spielt bei der weiteren Öffnung des Reisemarktes eine Schlüsselrolle. Er wird wohl künftig ein fester Bestandteil unserer Reiseaktivitäten sein. Am Flughafen werden wir zusammen mit dem Reisepass ganz selbstverständlich auch den Impfpass vorweisen. Trotzdem: Auch Menschen, die nicht geimpft sind, werden reisen können. Das BAG will in einem zweiten Schritt neben dem Impf-Zertifikat auch eine Bescheinigung für negativ Getestete und Genesene ausstellen. Leute, die nicht geimpft sind, müssen aber wohl mit mehr Einschränkungen und anhaltenden Quarantänepflichten rechnen.
Was könnte derzeit den Impfpass noch zu Fall bringen?
Sein Erfolg setzt sich aus unzähligen Mosaiksteinchen zusammen. Die Wirksamkeit und Verfügbarkeit der Impfstoffe sind solche Steinchen, aber beispielsweise auch Regelungen rund um den Datenschutz – das hat sich erst kürzlich bei der Schweizer Plattform meineimpfungen.ch gezeigt, die vorübergehend vom Netz genommen werden musste. Ein anderer Faktor ist die Akzeptanz der Impfpässe in den verschiedenen Ländern. Da wird es gegenseitige Abkommen brauchen, mit welchem Impfpass man wo reinkommt.
«Auch Menschen, die nicht geimpft sind, werden reisen können.»
Ist der Bevölkerung die Lust am Reisen durch die vielen Einschränkungen nicht schon längst vergangen?
Das grundsätzliche Reisebedürfnis hat sich durch die Covid-19-Pandemie nicht geändert. Das Verlangen nach Natur, Kultur, Abwechslung und Erholung ist bei den Menschen nach wie vor gross. Auch ein Nachholbedarf an Badeferien ist wahrzunehmen. Langfristig verändern werden sich aber gewisse Kriterien, nach denen die Menschen ihre Ferien planen.
Welche Kriterien sind das?
Aspekte wie Hygienesicherheit und Gesundheitsversorgung spielen bei der Auswahl der Destinationen eine immer grössere Rolle. Die Abstandsregelungen der letzten Monate werden den Touristinnen und Touristen noch lange im Gedächtnis bleiben. Sie buchen dann vielleicht lieber grössere Zimmer, Wohnungen statt Hotels oder Ferien in abgelegenen Regionen statt an Hochfrequenzorten. Outdoorferien könnten einen weiteren Aufschwung erleben. Wichtiger geworden sind zudem die Stornierungs- und Umbuchungsbedingungen sowie flexibel buchbare Angebote.
«Das grundsätzliche Reisebedürfnis hat sich durch die Covid-19-Pandemie nicht geändert.»
Profitieren davon die bereits totgeglaubten Reisebüros?
Im Moment kämpfen alle Reisebüros um ihre Existenz. In Zukunft dürfte ihre Beratungskompetenz aber wieder vermehrt nachgefragt werden. Sie bieten mit ihren umfassenden Angeboten einen Mehrwert, in dem sie das Bedürfnis nach Flexibilität und Buchungssicherheit stillen. Ich denke da an Versicherungsschutz und Umbuchungsmöglichkeiten bis hin zu kostenlosen Stornierungen. Aber eines können auch Reisebüros zurzeit nicht bieten: Planbarkeit.
Generell eine der grössten Herausforderungen der Krise.
Alles, was wir heute über die epidemiologische Lage wissen, kann in einigen Wochen wieder ganz anders aussehen. Wenn dann noch verschiedene Länder und Kontinente dazu kommen, wird es richtig komplex. Solange diese Planbarkeit nicht zumindest annähernd gegeben ist, wird sich die Branche nicht erholen können. Das gilt insbesondere für interkontinentale Reisen von grossen Gruppen.
«In Zukunft dürfte die Beratungskompetenz von Reisebüros vermehrt nachgefragt werden.»
Dieser Aspekt betrifft auch die Schweizer Tourismusbranche. Wie wird sich der Reiseverkehr in die Schweiz erholen?
Bis auf der Kappelbrücke wieder asiatische Reisegruppen stehen, wird es noch eine Weile dauern. Der interkontinentale Reiseverkehr in die Schweiz wird sich erst ab 2022 schrittweise und nur langsam erholen. Momentan müssen wir davon ausgehen, dass wir uns wohl erst 2026 wieder auf dem Niveau von 2019 befinden. Es ist gut möglich, dass die Schweizer Bevölkerung in den nächsten Jahren vermehrt Ferien in der Schweiz macht, da die Menschen 2020 gute Erfahrungen gesammelt haben. Vielleicht ziehen auch Personen aus Europa noch eine Weile Ferien in der Schweiz einer Fernreise vor.
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Das Corona-Jahr in Zahlen: So viel weniger Menschen haben im letzten Jahr in Schweizer Hotels übernachtet
Laut Angaben des Bundesamt für Statistik sind die Logiernächte in Schweizer Hotels im Jahr 2020 auf einen historischen Tiefststand gesunken. Seit 1950 haben hierzulande nicht mehr so wenig Menschen im Hotel übernachtet.
2020 verzeichnete die Schweizer Hotellerie 23.7 Millionen Logiernächte. Im Vergleich zu 2019 entspricht das einer Abnahme von 40 Prozent (-15.8 Millionen).
Die Nachfrage aus dem Ausland sank um rund 66 Prozent, bei den Gästen aus der Schweiz war ein Rückgang von 8.6 Prozent zu verzeichnen.
Am stärksten war der Rückgang in den städtischen Gebieten. Insbesondere Genf (-68%), die Region Zürich (-65%) und die Region Basel (-59%) verzeichneten markante Einbussen.
Die geringsten Abnahmen der Logiernächte waren im Kanton Graubünden (-9%) und im Tessin (-16%) zu beobachten. Obwohl die Gesamtzahl an Logiernächten insgesamt auch da zurück ging, übernachteten in Graubünden (+12%) und im Tessin (+10%) im Jahr 2020 mehr Gäste aus dem Inland als im Vorjahr. Die fehlenden ausländischen Touristinnen und Touristen vermochte das aber nicht zu kompensieren.
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Bis 2019 sprachen noch alle von «Overtourismus». Jetzt, nach einem Jahr Pandemie, soll es plötzlich ganz schnell gehen, bis das Niveau von damals wieder erreicht ist und der Tourismus wieder wachsen kann. Ist das überhaupt wünschenswert?
Kurzfristig gesehen ist eine rasche Erholung der Tourismusbranche sinnvoll und aus wirtschaftlicher Sicht auch wünschenswert. Klar ist aber auch: Das bisherige Paradigma des ewigen Wachstums ist in dieser Form nicht zukunftsfähig. Die Coronakrise ist eine Chance, neue Modelle und Angebote zu entwickeln, um einen nachhaltigeren Tourismus möglich zu machen. Das funktioniert nur, wenn die Menschen in Zukunft insgesamt weniger reisen, ihre Reisedistanzen reduzieren und dafür pro Reise länger an einem Ort bleiben. Darauf müssen Reise-Angebote ausgerichtet sein. Die grosse Frage wird deshalb sein, ob es den Dienstleistern und Anbietern gelingt, ihre Geschäftsmodelle dahingehend zu entwickeln – und ob die Reisenden gewillt sind, ihr Reiseverhalten entsprechend anzupassen.
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