Stellen Sie sich vor, Sie hätten bei einem Gewinnspiel den Jackpot geknackt. Sie können sich zwischen zwei Preisen entscheiden: Entweder kriegen Sie heute 10’000 Franken geschenkt und jeden Monat kommen weitere 10’000 Franken hinzu. Oder Sie kriegen ein Startguthaben von einem Franken und jeden Monat wird das Guthaben verdoppelt, bis Sie das Geld abheben. Welche Option wählen Sie?
Entscheidungshilfe gefällig? Bei der ersten Variante steht der Kontostand nach zwölf Monaten bei 120’000 Franken, nach zwei Jahren sind es 240’000 Franken. Bei der zweiten Variante stehen nach zwölf Monaten 2’048 Franken zu Buche. Nach zwei Jahren sind es bereits 8’388’608 Franken, also mehr als 8 Millionen. Nochmals zwölf Monaten später könnten Sie schon über 34 Milliarden Franken abheben.
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So wird’s berechnet
Am Tag 0 beträgt das Guthaben 1 Franken. Nach dem ersten Monat (also nach einer Verdopplung) sind es 2 Franken. Bis das erste Jahr vorbei ist, stehen noch 11 weitere Verdopplungen an (also 2^11). Das ergibt 2’048 Franken. In zwei Jahren verdoppelt sich der Beitrag vom ersten Monat 23 mal (2^23=8’388’608), in drei Jahren 35 mal (2^35=34’359’738’368) und so weiter..
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Lineares Wachstum liegt uns besser
Alle, die sich für die erste Variante entschieden haben, werden sich jetzt ganz schön ärgern. Sie sind dem Prinzip des exponentiellen Wachstums zum Opfer gefallen – und sie wären damit bestimmt nicht allein. Menschen unterschätzen exponentielle Entwicklungen nämlich systematisch. Das liegt daran, dass es verschiedene Formen von Wachstum gibt. In unserem Alltag begegnet uns am häufigsten das lineare Wachstum: Ein Teenager macht jeden Tag 50 Fotos mit dem Smartphone. Nach zwei Tagen hat der Teenager 100 Fotos, nach drei 150 und nach vier Tagen 200 Fotos. Das ist ziemlich einfach zu verstehen, weil die Anzahl der Fotos auf dem Smartphone geradlinig zur zeitlichen Dimension ansteigt. Exponentielles Wachstum hingegen beschleunigt mit der Zeit – die Wachstumskurve verläuft also nicht gerade, sondern wird immer steiler. Ein bekanntes Beispiel sind der Zins und Zinseszins: Je mehr Geld man hat, desto schneller vermehrt es sich.
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Fatales Missverständnis in einer Pandemie
Das systematische Unterschätzen des exponentiellen Wachstums zeigt sich auch während einer Pandemie. «Bei wenig Neuinfektionen, wie wir sie im Sommer hatten, kann man sich kaum vorstellen, wie schnell die Zahlen wachsen können», sagt Martin Schonger. Er ist Studiengangleiter des Bachelors Mobility, Data Science and Economics an der Hochschule Luzern und hat gemeinsam mit der Forscherin Daniela Sele von der ETH Zürich untersucht, wie man exponentielles Wachstum möglichst vielen Menschen begreifbar machen kann.
Aus früheren Experimenten wissen die beiden: Selbst diejenigen, die exponentielles Wachstum mit dem Taschenrechner berechnen können, liegen bei einer intuitiven Einschätzung weit daneben. Daher bringt es auch wenig, Menschen über ihren «exponential growth bias» – wie das Phänomen der Unterschätzung des exponentiellen Wachstums genannt wird – aufzuklären. Vielmehr müsse man erforschen, wie ein exponentieller Prozess besser kommuniziert wird.
Massiv daneben
Um das herauszufinden, haben Martin Schonger und Daniela Sele ein Experiment mit knapp 500 Teilnehmenden durchgeführt. Dabei arbeitete das Forschungsteam immer mit demselben fiktiven, aber realistischem Szenario:
Ein Land verzeichnet aktuell 1000 Covid-Infektionen. Die Fallzahl wächst aktuell täglich um 26 Prozent. Durch eindämmende Massnahmen könnte die Wachstumsrate auf 9 Prozent gesenkt werden.
Die Teilnehmenden wurden zufällig in vier Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe wurde gefragt, wie viele Fälle durch die eindämmenden Massnahmen in den kommenden 30 Tagen verhindert werden könnten. Über 90 Prozent der Teilnehmenden unterschätzten die Auswirkungen massiv. Im Median glaubten die Teilnehmenden, dass 8’600 Fälle verhindert werden könnten. Tatsächlich wären es aber fast eine Million. In anderen Gruppen wurde das identische Szenario auf andere Arten vermittelt. Mit dem Resultat, dass die Teilnehmenden das Ausmass der Bedrohung und das Potenzial der Massnahmen je nach Vermittlungsart unterschiedlich gut verstanden haben.
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Zeit leichter zu verstehen als Wachstumsrate
Eine Erkenntnis des Experiments: Wachstumsraten und Reproduktionszahlen – beispielsweise der oft erwähnte R-Wert – sind grundsätzlich schwer zu verstehen. Besser gelingt es den Teilnehmenden, die zeitliche Dimension der Ausbreitung zu durchblicken. So lieferte im Experiment jenes Szenario die besten Verständniswerte, in dem nicht nach der Anzahl verhinderter Fälle, sondern nach der gewonnenen Zeit durch die eingeleiteten Massnahmen gefragt wurde.
Folgende Aussage würde sich demnach gut eignen, um die Wirkung von Massnahmen zu kommunizieren: «Dank den heute ergriffenen Massnahmen können wir davon ausgehen, dass sich die Fallzahlen nicht mehr alle drei Tage verdoppeln, sondern nur noch alle acht Tage. Dadurch gewinnen wir 50 Tage Zeit, bis die Marke von einer Million Infektionen überschritten würde. Diese Zeit können wir nutzen, um mehr Erfahrung im Umgang mit dem Virus zu sammeln und die Spitäler besser vorzubereiten.»
«Das Verstehen des exponentiellen Wachstums macht erst sichtbar, wie ernst die Lage ohne die Massnahmen wäre und wie viel durch sie erreicht wurde.»
Martin Schonger, Hochschule Luzern
Den Erfolg besser hervorheben
Martin Schonger vermisst bei der Berichterstattung über die Entwicklung der Corona-Pandemie die Erfolgsmeldungen. «Um die Corona-Pandemie in Schach zu halten, sind wir derzeit noch fast ausschliesslich auf das Verhalten der Menschen angewiesen», sagt der Forscher. Wenn die Medien vermehrt aufzeigen würden, wie positiv sich das Verhalten der Menschen auf die Entwicklung der Infektionszahlen auswirkt und schon ausgewirkt hat, wäre das Engagement der Menschen noch viel höher, ist sich Schonger sicher. «In den Medien lesen wir vor allem, wie stark die Fallzahlen gestiegen sind», sagt er. Zielführender wäre es aber, aufzuzeigen, wie stark die Verdoppelungszeit bereits ausgedehnt werden konnte.
Bis zum 28. Oktober verdoppelte sich die Anzahl der täglichen Neuinfektionen noch in viel kürzeren Abständen als heute. Wäre dies unverändert so geblieben, dann hätte die Schweiz wohl bereits einige Wochen später den millionsten Corona-Fall zu verzeichnen gehabt. Mit den Massnahmen, die am 29. Oktober in Kraft getreten sind, konnte der Anstieg gebremst werden – von 8’945 neuen Fällen am 30. Oktober auf 4’414 Fälle am 2. Dezember. Insgesamt stand die Schweiz am 9. Dezember bei 363’654 laborbestätigten Fällen. Martin Schonger: «Das Verstehen des exponentiellen Wachstums macht erst sichtbar, wie ernst die Lage ohne die Massnahmen wäre und wie viel durch sie erreicht wurde.»
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