Jeden Tag werden in der Schweiz ein bis zwei Kinder tot geboren – ein schwerwiegendes Ereignis für alle Beteiligten. Trotzdem findet das Thema im öffentlichen Diskurs kaum statt. Woran liegt das?
«Gemessen an der Gesamtzahl an Geburten handelt es sich beim perinatalen Kindstod um ein sehr seltenes Ereignis. Ein überwiegend grosser Teil aller Schwangerschaften und Geburten verläuft ohne schwerwiegende Komplikationen. Deshalb wird über Totgeburten in der Öffentlichkeit kaum gesprochen. Das mag bis zu einem gewissen Grad auch sinnvoll sein, weil so übertriebene Ängste bei schwangeren Frauen vermieden werden.
Zum anderen dreht sich das Thema ‹Totgeburt› um die Begriffe ‹Tod›, ‹Sexualität› und ‹Geburt›. Das sind Themen, die nach wie vor stark ins Private gedrängt werden und in der Öffentlichkeit in Verbindung miteinander wenig zur Sprache kommen. Das erschwert es für betroffene Familien zusätzlich, darüber zu sprechen.»
Welche Folgen hat die Tabuisierung dieses Themas für die Betroffenen?
«Werdende Mütter und Väter werden nicht adäquat auf ein solches Ereignis vorbereitet. In ihren Köpfen ist verankert: Nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten hat die Medizin alles im Griff. Ab dann kann nichts mehr passieren. Über ernsthafte Komplikationen kurz vor oder während der Geburt wird kaum geredet. Dass das problematisch ist, hat sich während unserer Befragung von betroffenen Eltern sehr eindrücklich gezeigt. Fast alle befragten Mütter berichteten, dass sie mit der Situation besser zurechtgekommen wären, wenn sie vorher gewusst hätten, dass so etwas geschehen kann.
Die Tabuisierung trägt auch dazu bei, dass die Abläufe in den Spitälern zu wenig auf die Bedürfnisse der betroffenen Eltern ausgerichtet sind. Weil nicht alle Fachpersonen ausreichend für solche Situationen ausgebildet werden, reagieren sie zuweilen hilflos. Dasselbe Phänomen stellten wir auch im direkten Umfeld der Betroffenen fest. Freundinnen, Arbeitskollegen oder Angehörige sind mit der Situation teilweise überfordert und wissen nicht, wie sie mit den betroffenen Eltern interagieren sollen. Diese Hilflosigkeit im Umgang mit Totgeburten belastet Betroffene zusätzlich und führt zu Situationen, die verletzend sein können.»
Was braucht es, um betroffene Eltern und deren Umfeld in dieser Phase der Trauer möglichst gut zu unterstützen?
«Betroffene Eltern brauchen in dieser Phase eine kontinuierliche Begleitung. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose muss jemand für die betroffenen Eltern da sein. Das kann auch ein kleines Team von Personen sein. Die schwierigste Phase für viele Eltern beginnt nach der Diagnose, wenn die Mutter wieder nach Hause geht und dort darauf wartet, ihr verstorbenes Baby zu gebären. Das ist in den meisten Fällen eine Zeit tiefster Trauer. In dieser Phase sind die Eltern auf sich alleine gestellt – obwohl genau dann eine enge Begleitung wichtig wäre, die bis zum Wochenbett gewährleistet sein sollte.
Ein ganz entscheidender Faktor ist auch die Kommunikation der Fachpersonen untereinander und gegenüber den Eltern. Im Rahmen der Befragung wurde uns beispielsweise erzählt, dass medizinische Fachpersonen die Mutter bei ambulanten Nachkontrollen fragten, wie es ihrem Baby gehe. Offensichtlich hatten sie die Krankenakte nicht richtig gelesen. Solche Situationen liessen sich mit einfachen Massnahmen verhindern. In einigen Spitälern werden beispielsweise Symbole wie ‹der kleine Prinz› an Türen und auf Dokumenten angebracht, sodass alle Fachpersonen selbst unter Zeitdruck Bescheid wissen.
Oft kommt es zudem vor, dass die Eltern mit fixen Vorstellungen über ‹richtiges› Trauern überrollt werden, die für sie nicht stimmen. Stufenmodelle des Trauerns sind sehr populär, treffen in der Realität aber nur sehr selten zu. Jede Person trauert auf ihre Weise und hat dabei ihren eigenen Rhythmus. Darauf muss Rücksicht genommen werden.»
Die Hochschule Luzern hat dem Thema eine Studie gewidmet. Was können die Ergebnisse zur Sensibilisierung beitragen?
«Wir wollen das Thema sichtbar machen – einerseits bei der breiten Öffentlichkeit, andererseits aber auch in Fachkreisen. Eine Sensibilisierung kann nur gemeinsam mit allen Akteuren geschehen. Dazu gehören medizinische Einrichtungen, Fachpersonen, Psychologinnen, Theologen, Krankenkassen sowie Betroffene und deren Umfeld. Unsere Aufgabe sehen wir darin, diese Institutionen und Personen zusammenzubringen und Lösungen sowie Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die den Bedürfnissen der betroffenen Mütter und Väter entsprechen.»