Im Januar meide ich das Fitnessstudio. Plötzlich sind da all diese übermotivierten Leute, enthusiastisch in nigelnagelneue Leggins gezwängt, die unbeholfen an den Kraftgeräten hantieren. Und andächtig nicken, wenn die Gruppenkursleiterin in unsere schwitzenden Gesichter ruft: «Summer bodies are made in winter!» Ich kann mir den Argwohn nicht verkneifen und bin insgeheim sicher: Spätestens im März haben sich die Reihen gelichtet.
Ob es nun mehr Sport ist, wir mit dem Rauchen aufhören oder weniger Fleisch essen wollen: In unseren Köpfen scheint sich der 1. Januar als der Stichtag eingebrannt zu haben, um die schon lange vor sich hergeschobene Veränderung in Angriff zu nehmen. Wieso tun wir uns das immer wieder an, obwohl wir so oft scheitern oder aufgeben? Wären wir mit einem konsequenten Mittelweg nicht besser beraten, anstatt uns nach der weihnachtlichen Kauf- und Schlemmer-Orgie direkt in eine Totalrevision zu stürzen? Und inwiefern befeuern Konsumtrends und marktwirtschaftliche Mechanismen unsere Vorsätze?
Wir haben bei Wirtschafspsychologe Marcel Zbinden nachgehakt, der an der HSLU schwerpunktmässig zu Konsum und Nachhaltigkeit forscht. Im Bachelor Business Psychology – ab Herbst 2024 auch im neu lancierten Masterstudium – gibt er sein Wissen an die Studierenden weiter. Er kennt die entscheidenden Faktoren, die (eher) zum Erfolg von Vorsätzen führen. Aber der Reihe nach.
Zuerst das grosse Gönnen
Um das Phänomen Neujahrsvorsätze zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit den vorangehenden Monaten befassen. «Rein emotional handelt es sich um die schwierigste Zeit des Jahres», sagt Zbinden. Die grauen Monate November und Dezember, in denen die Tage kurz sind und das Sonnenlicht rar, in denen wir durch Regenpfützen stapfen und über das nasskalte Wetter schimpfen, sind eine Herausforderung. «Viele Leute sind beim Herbst- und Wintereinbruch schlecht gestimmt, nachweislich nehmen auch depressive Erkrankungen zu», so Zbinden.
Umso grösser sei das menschliche Bedürfnis, die Stimmung auszugleichen. Konsum spielt dabei eine entscheidende Rolle, weiss der Wirtschaftspsychologe: «Studien belegen, dass in negativer Stimmung häufiger Frustkäufe stattfinden. Man kauft also Dinge aus einem Impuls heraus in der Hoffnung, dass sie die Laune aufbessern.» Auch der Kauf von Geschenken, um anderen eine Freude zu bereiten, kann die ersehnte Befriedigung auslösen. Dass zeitgleich der 13. Monatslohn auf dem Konto erscheint, macht es umso schwieriger, dem Konsumdrang nicht nachzugeben.
«Ende Jahr sind wir sehr anfällig auf übermässigen Konsum»
Marcel Zbinden, Wirtschaftspsychologe
Es geht aber nicht nur um die Anhäufung von Materiellem: «Es ist kein Zufall, dass sich gerade Ende Jahr so viele festliche Anlässe und soziale Zusammenkünfte etablieren konnten», erklärt Zbinden. Wir sehnen uns nach Gesellschaft und schönen Traditionen, oftmals verbunden mit zügellosem Genuss. Ob beim Shoppen oder am Esstisch: «Insgesamt sind wir in dieser Zeit sehr anfällig auf übermässigen Konsum. Diese Chance haben die Marketingabteilungen längst erkannt.» Folglich werden wir förmlich überflutet mit Verhaltensanreizen, Black-Friday-Rabatten, Weihnachtsmärkten und Werbekampagnen für all das, was wir zur Weihnachtszeit vermeintlich brauchen. Die Folge: Unter dem Deckmantel, sich «etwas Gutes tun», schlagen wir Ende Jahr häufig auf allen Ebenen über die Stränge.
Genug ist genug: Vorsätze als Gegenreaktion
Vor diesem Hintergrund sei der Jahreswechsel der perfekte Moment, um Vorsätze zu fassen, erklärt der HSLU-Experte. «Man kann das Phänomen auch als natürliche Gegenreaktion auf den Überkonsum im November und Dezember beschreiben», sagt er. Zudem stehe der 1. Januar für Neubeginn: «Gefühlt können wir dank diesem Stichtag etwas abschliessen und neu aufbrechen. Die Tage werden wieder länger, man hat plötzlich Energie und Zeit etwas anzugehen, das man sich schon lange vorgenommen hat.»
So positiv dieser Optimismus auch ist: Häufig versanden gute Vorsätze im Nichts. Aus verhaltenspsychologischer Sicht gibt es laut Zbinden zwei Hauptgründe für dieses Scheitern. Erstens: Man will zu viel. «Wer zuvor elf Monate lang keinen Sport gemacht hat, schafft es nicht, im neuen Jahr dreimal pro Woche ins Fitnesscenter zu gehen – zumindest nicht langfristig.» Um eine neue Verhaltensweise zu etablieren, braucht es regelmässige Auslöser oder «Trigger» im Alltag (die bereits am Vorabend gepackte Sporttasche), aber auch anhaltende Motivation und Durchhaltewillen (die gewünschte Fitnessfigur ist ein persönlich relevantes Ziel) sowie entsprechende Fähigkeiten (in diesem Fall die nötige Grundkondition). Scheitert es nur schon an einer der drei Bedingungen, muss das Ziel «verkleinert» werden, bis alle drei erfüllbar sind.
Zweitens: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. «Unser Alltag ist stark unterbewusst bestimmt», sagt Zbinden, «wenn ich plötzlich sehr viel mehr trainieren will, muss ich andere Aktivitäten aus meinem Wochenplan streichen.» Der Wirtschaftspsychologe führt aus: «Idealerweise wird ein neues Verhalten stattdessen an bestehende Alltagsaktivitäten geknüpft. Dabei hilft eine sorgfältige Planung.» Zum Beispiel können wir den Einkauf am Samstagmorgen, bei dem wir ohnehin am Fitnessstudio vorbeikommen, als niederschwelligen Auslöser nutzen und mit einem 30-minütigen Training verbinden.
Veganuary und Co.: Der Markt profitiert
Selbstverständlich befinden wir uns mit unseren Neujahresvorsätzen nicht im luftleeren Raum, sondern werden massgeblich vom Detailhandel, von der Werbung und von unserem Umfeld beeinflusst. Sie können uns dabei unterstützen, Veränderungen umzusetzen. Gerade Bewegungen wie der «Dry January» oder der «Veganuary» scheinen einen Nerv zu treffen. Statt um kleine, langfristige Veränderungen geht es dabei um eine kurzfristige «Intervention», der man sich anschliessen kann. In diesem Fall um den kompletten Verzicht auf Alkohol, respektive tierische Produkte während 31 Tagen. Zbinden hat zum Veganuary geforscht und Teilnehmende im Rahmen einer Studie begleitet.
HSLU-Studie zum Veganuary: Was von der Ernährungsumstellung übrigbleibt
Die HSLU hat in Zusammenarbeit mit der Veganen Gesellschaft Schweiz die Erfolgschancen und Stolpersteine des «Veganuary» untersucht. Im Januar 2023 wurden 19 interessierte Veganuary-Teilnehmende im Rahmen der qualitativen Studie intensiv begleitet. Während eines Monats sollten sie sich komplett vegan ernähren und ihre Erfahrungen in Tagebucheinträgen festhalten, so dass in den 31 Tagen fast 3’000 Essenssituationen untersucht wurden. Vor und nach der Ernährungsumstellung wurde die Gruppe zu Erwartungen, Vorsätzen, Ergebnissen und längerfristigen Veränderungen befragt.
Die Resultate zeigen: Obwohl sich Wochenenden, Einladungen und Restaurantbesuche als herausfordernd erwiesen, war das Durchhaltevermögen im Alltag gross. Gerade der Verzicht auf Fleisch fiel den Teilnehmenden leichter als erwartet – viele von ihnen haben den Konsum von tierischen Produkten auch nach dem Experiment deutlich reduziert.
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«Der Veganuary hat in vielerlei Hinsicht Potenzial. Er passt zu anfangs Jahr gesetzten Gesundheits- und Nachhaltigkeitszielen, schafft das Gefühl eines gemeinschaftlichen Commitments und er ist omnipräsent», erläutert Zbinden. Besonders für den Detailhandel sei der Aktionsmonat ein gefundenes Fressen – die ideale Möglichkeit, das Kaufverhalten trotz Januarloch wieder anzukurbeln und sich möglichst nachhaltig zu positionieren. «Tatsächlich sehen wir, dass gerade Detailhändler und Restaurants überproportional stark mit dem Veganuary werben – verglichen damit, wie viele Leute tatsächlich bei der Bewegung mitmachen.» Der Markt reagiert also auf die angebrochene Aufbruchstimmung und schlägt seinerseits Profit aus populären Neujahrsvorsätzen. Verständlicherweise, wie Zbinden anmerkt, denn die Anpassung an Bedürfnisse und Nachfrage seien letztlich das A und O, um als Unternehmen Erfolg zu haben.
Die Krux mit dem Mittelweg
Zbinden weiss aber auch: Trotz externer «Befeuerung» ist die Chance, dass ein leidenschaftlicher Fleischesser sich für den Veganuary anmeldet und den Aktionsmonat zu 100% erfolgreich durchzieht, relativ klein. Dies unter anderem deshalb, weil Ernährung viel mit Wissen für die Zubereitung, mit Traditionen und mit sozialem Einfluss zu tun hat. Bei den meisten Leuten führe ein solches Experiment deshalb eher dazu, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen, neue Produkte ausprobieren und dadurch womöglich offener werden. Und so mittel- oder langfristig kleine Veränderungen erzielen: Man integriert ein neues Rezept in den eigenen Menüplan oder greift in der Kantine eher zum fleischlosen Sandwich.
«Idealerweise wird ein neues Verhalten an bestehende Alltagsaktivitäten geknüpft»
Marcel Zbinden, Wirtschaftspsychologe
Anders ist die Ausgangslage bei Menschen, die ohnehin affin sind für vegane Ernährung und gerne Neues in der Küche ausprobieren. Oder wenn jemand aus dem sozialen Umfeld – im besten Fall im eigenen Haushalt – bei einem solchen Plan mitzieht. Unter diesen Voraussetzungen kann der Veganuary gelingen und so die nötigen Weichen für eine komplette Umstellung setzen. Wichtig sind dafür die oben bereits erwähnten Trigger (bereits vorgekochte vegane Gerichte oder die Verfügbarkeit veganer Snacks), die Motivation (etwas Gutes für die Tiere, die Umwelt oder die Gesundheit zu tun) und die notwendigen Fähigkeiten (Wissen, wo man entsprechendes Essen bekommt bzw. wie man dieses zubereitet). Wenn das konsequente Ausbrechen aus der Routine über einen gewissen Zeitraum tatsächlich gelingt, und Essgewohnheiten verändert werden können, ist der Effekt besonders nachhaltig.
Die Frage bleibt: Wäre es nicht viel einfacher, uns das ganze Jahr über in Mässigung zu üben, anstatt es jedes Jahr mit neuen, noch radikaleren Vorsätzen zu versuchen? Zbinden schmunzelt: «Wir sind sehr gut im Kompensieren von Extremen und schlecht darin, den konsequenten Mittelweg zu wählen.» Aber wer weiss: Vielleicht wird ausgerechnet 2024 ja alles anders…