«NFTs sind keine neue Kunstform»

Non-Fungible Tokens mischen den Kunsthandel auf und sorgen weltweit für Schlagzeilen. Ein grosser Hype, findet Blockchain-Experte Tim Weingärtner. Trotzdem sieht er in den digitalen Eigentumszertifikaten auch Potenzial.

24.01.2022 Collage von ©Raisa Durandi zum Thema NFTs mit Screenshot Zitaten von Larva Labs, Made S Art, beeple, Jack Dorsey. Besitzer sind im Bild vermerkt.

NFTs mischen den Kunstmarkt auf. Der Beginn einer digitalen Revolution?

62 Millionen Dollar für ein paar Bits und Bytes: Diese Summe erzielte der US-Künstler Beeple kürzlich bei der Auktion der digitalen Collage «Everydays: The First 5000 Days». Beim Verkauf wechselte allerdings nicht ein physisches Gemälde den Besitzer, sondern Daten, genauer: ein Non-Fungible Token (NFT).

Solche Spitzenpreise für digitale Kunstwerke haben NFTs in den letzten Monaten ins Rampenlicht des öffentlichen Interesses katapultiert. Der Informatiker Tim Weingärtner erforscht am Information Systems Research Lab der Hochschule Luzern Blockchain-Anwendungen. Auch er beobachtet die Entwicklungen rund um NFTs. Im Interview erläutert er, was hinter dem Phänomen steckt.

Tim Weingärtner, man liest immer von NFTs, als handle es sich dabei um eine neue Form von digitaler Kunst. Stimmt das?

Nein. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. NFTs sind keine neue Kunstform. Es handelt sich um Eigentumszertifikate. Diese weisen einem digitalen Kunstwerk eine ID zu, die bestätigt: Dieses Werk gehört mir, es ist das Original. Aber sie sind nicht das Kunstwerk selbst.

NFTs versprechen ihren Käuferinnen und Käufern also, das Original eines digitalen Kunstwerks zu besitzen. Wie kann man bei beliebig reproduzierbaren digitalen Daten von einem Original sprechen?

Eine physische Kopie der Mona Lisa unterscheidet sich immer vom Original, egal wie gut sie ist. Das Original hat eine Geschichte, es ist einzigartig. Wenn ich hingegen ein Katzen-GIF kreiere, gibt es keinen überprüfbaren Hinweis darauf, ob die Datei auf meiner Festplatte das ursprüngliche Bild ist, und die auf einem anderen Computer bloss eine Kopie davon. Jetzt können wir erstmals sagen: Wir haben das digitale Original vor uns. NFTs haben das Prinzip der Einzigartigkeit in die digitale Welt gebracht.

Woran erkenne ich, dass es sich bei einer Datei um das Original handelt?

Der Autor oder die Autorin eines Werks verknüpft das Werk mit einem neu erschaffenen NFT. In den Metadaten dieses NFT wird ein Link auf das Original verankert. Der neue NFT wird dann einem Passwort-geschützten Blockchain-Konto zugeordnet, einer dezentralen, fälschungssicheren Datenbank. Dieses Vorgehen hindert zwar niemanden daran, eine Kopie des Werkes anzufertigen. Aber der Link im NFT bleibt stets mit dem Original verknüpft. Dessen Urheber oder Urheberin sind immer eindeutig nachweisbar.

Spitzenpreise für «Punks» und «Kätzchen»

Der Begriff Non-Fungible Token bezeichnet ein Zertifikat, das ein Objekt digital schützt und es so einzigartig (non-fungible) macht. Die meisten NFTs basieren auf Ethereum, einer weitverbreiteten Blockchain-Technologie.

Im Gegensatz zu NFTs stehen Fungible Tokens. Dabei handelt es sich um Tokens ähnlich den Kryptowährungen wie Ether oder Bitcoin: Ein Token mit dem Wert X lässt sich beliebig durch einen anderen mit dem gleichen Wert ersetzen – so wie ein Zweifränkler genau so viel Wert besitzt wie ein anderer.

Die ersten NFTs wurden 2012 entwickelt. 2017 erlangten sie kurzzeitig öffentliche Aufmerksamkeit mit dem Handel sogenannter CryptoPunks und CryptoKitties. Bei ersteren handelt es sich um 10’000 computergenerierte Pixelporträts. Jedes Porträt ist einzigartig. Die CryptoKitties wiederum entstammen einem Ethereum-basierten Game, bei dem Spielerinnen und Spieler digitale Kätzchen «züchten».

2021 explodierten die Preise für NFT-Kunst: So erzielte der «Covid Alien»-Punk #7523» im Juni knapp 12 Millionen Dollar bei Sotheby’s. Ein NFT des berühmten GIFs «Nyan Cat» wechselte für 600’000 Dollar den Besitzer.

Auf der NFT-Handelsplattform OpenSea wechseln unter anderem die berühmten CryptoPunks-Porträts den Besitzer. Bild: Screenshot
Auf der NFT-Handelsplattform OpenSea wechseln unter anderem die berühmten CryptoPunks-Porträts den Besitzer. Screenshot der Plattform

Ist dieser Nachweis Hunderttausende oder sogar Millionen Franken wert?

Was macht Kunst wertvoll? Wenn ich Ihnen einen Zettel gebe, den ich unterschrieben habe, dann setzt sich sein materieller Wert nur aus dem Papier und der Tinte darauf zusammen. Wäre ich hingegen berühmt, wären Sie vielleicht bereit, für den Zettel eine Million Franken auszugeben. Banksys halb geschreddertes Bild ging für 18 Millionen Pfund über den Tisch. Beim Kunstmarkt geht es in erster Linie um den immateriellen Wert; unabhängig davon, ob NFTs im Spiel sind oder nicht.

Revolutionieren NFTs somit gerade den Handel mit Kunst? Oder ist das nur eine Blase, die bald platzt?

Für mich ist klar: NFTs werden gehyped! Alle Welt spricht davon, alle wollen ein Stück vom Kuchen abhaben. Und wie bei den Hypes um Bitcoin und andere Blockchain-Anwendungen folgt auch hier früher oder später die Desillusionierung. Sei es, weil ein Überangebot entsteht und sich die Preise nicht in die erhoffte Richtung entwickeln. Oder wegen «bad players», die unerfahrene Käuferinnen und Käufern übers Ohr hauen. Trotzdem glaube ich, dass die Technologie den Markt nachhaltig verändern wird, denn sie bringt Künstlerinnen und Künstlern unter dem Strich zu viele Vorteile.

Welche Vorteile sind das?

Der Handel mit NFTs eröffnet Kunstschaffenden neue digitale Wege. Sie können ihre Werke direkt an Interessentinnen und Interessenten verkaufen, statt den Verkauf über Galerien oder Kunsthändler abzuwickeln, die derzeit auf dem Kunstmarkt noch eine zentrale Rolle spielen. Kunstschaffende können auch festlegen, welche Rechte an die Käuferinnen und Käufer eines NFTs übergehen, oder Gebühren verlangen, wenn jemand ein Original weiterverkauft und so von der Wertsteigerung profitieren. Die meisten NFTs basieren zudem auf der weitverbreiteten Blockchain-Technologie Ethereum. Transaktionen lassen sich somit ohne grossen Aufwand über die Ethereum-Kryptowährung Ether abwickeln.

Alle Welt will ein Stück vom NFT-Kuchen abhaben.

Tim Weingärtner

Nehmen wir an, ich zeichne ein Bild in Photoshop. Könnte ich es als Laie via NFT verkaufen?

Natürlich. Vorausgesetzt, Sie finden dafür einen Käufer oder eine Käuferin… Es gibt gute, laienverständliche NFT-Tutorials im Internet. Aber wer jeden Aspekt eines NFT selbst kontrollieren will – von der Erstellung der Datei über die Anbindung an eine Blockchain-Datenbank bis zum Festlegen, welche Rechte mit dem Verkauf verbunden sind – der muss sich tiefer in die Materie einarbeiten. Für die meisten Kulturschaffenden werden Zwischenhändler wahrscheinlich nach wie vor eine Rolle spielen. Bloss wird es sich dabei nun eher um Handelsplattformen wie OpenSea handeln, die standardisierte NFTs anbieten, und nicht mehr um klassische Kunsthändler oder Galerien.

Im Fokus der medialen Berichterstattung steht die digitale Kunst. Wer mischt sonst noch mit auf dem NFT-Markt?

Neben der Kunst- sind das bisher in erster Linie die Musik-, die Bekleidungs- und die Sport-Branche. Nike und Adidas sind kürzlich in den Markt eingestiegen und Profi-Fussballer Cristiano Ronaldo hat eine NFT-Autogrammkarte für 290’000 Dollar verkauft. Hierzulande bietet die Berner Fussballmannschaft BSC Young Boys NFT-Karten ihrer Spieler an. Man kann sich das wie digitale Panini-Bildchen vorstellen. NFTs erfinden hier also das Rad nicht neu, sie heben vielmehr ein bestehendes System auf die digitale Ebene. Für Musikschaffende sind NFTs ebenfalls attraktiv. Sie können deren Verkauf so regeln, dass sie jedes Mal Tantiemen erhalten, wenn jemand ihr Album herunterlädt.

Mehr Informationen zum Thema NFT gibt’s auf dem Informatik-Blog der Hochschule Luzern.

Gibt es auch Anwendungsmöglichkeiten jenseits des Kulturgüterhandels?

NFTs sind anwendungsneutral. Das geht in der Diskussion um digitale Kunst oft unter. Sie lassen sich auch einsetzen, um mehr Transparenz in globale Lieferketten zu bringen. Ein Student von mir hat für seine Bachelor-Arbeit in Wirtschaftsinformatik ein Konzept für die Textilbranche entwickelt. Sein Vorschlag sieht vor, für jede Station bei der Herstellung eines Kleidungsstücks ein NFT-Zertifikat auszustellen; vom Pflücken der Baumwolle, über die Verarbeitung zu Garn bis zum Nähen. Die Zertifikate belegen, dass bei der Herstellung gewisse soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt wurden. Kunden können sie via QR-Code oder RFID-Chips auslesen und so die Lieferkette bis zur Pflückerin zurückverfolgen, die die Baumwolle gepflückt hat.

Zuletzt wurden Befürchtungen laut, NFTs könnten als Vehikel zur Geldwäsche missbraucht werden…

Der Kunstmarkt ist sowieso anfällig für Geldwäsche, das hat erstmal nichts mit NFTs zu tun. Allerdings: Auf den meisten NFT-Handelsplattformen reicht es, wenn sich Nutzerinnen und Nutzer bloss mit Pseudonymen anmelden. Das erleichtert den Missbrauch tatsächlich.

Hinter dem Käufer und der Verkäuferin eines Werkes könnte also theoretisch eine kriminelle Organisation stecken, die Geld aus illegalen Aktivitäten wäscht.

Faktisch ist es nicht so einfach, wie es klingt: NFTs werden in Ether gehandelt. Dieses Geld bleibt im Kryptokreislauf, man kann sich damit nur wenige Dinge kaufen. Ich muss es in Franken oder andere Währungen umwandeln. Diese Umwandlung wird von vielen Ländern reguliert. Wenn ich plötzlich Ether im Wert von 5 Millionen Franken konvertieren will, wird die Handelsplattform eine Herkunftsbestätigung verlangen. Letztlich gilt für NFTs das gleiche wie für jede neue Technologie: Sie ist weder gut noch schlecht. Man kann damit Gutes tun – oder man kann sie missbrauchen.

NFT und Blockchain an der Hochschule Luzern

Die Blockchain-Technologie und damit verbundene Anwendungen wie NFTs und Kryptowährungen sind ein Schwerpunkt an der Hochschule Luzern. Einige Beispiele:

  • Im Frühlingssemester loten Studierende des Bachelor Digital Ideation der Departemente Informatik und Design & Kunst das Potenzial von NFT-Anwendungen aus. Sie entwickeln dabei unter anderem NFT-Prototypen.
    Blockchain ist zudem ein Wahlmodul der beiden Bachelor-Studiengänge Informatik und Wirtschaftsinformatik.
  • Im CAS Blockchain am Departement Informatik werden die Grundlagen sowie Anwendungsfelder in Bezug auf die Blockchain-Technologie vermittelt.
  • Forschende des Information Systems Research Lab am Departement Informatik untersuchen und entwickeln Blockchain-basierte Anwendungen in einer ganzen Reihe von Einsatzgebieten: vom Sozialwesen über den Strommarkt bis zum E-Voting.

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