Lianne hat Solarzellen auf ihrem Dach installiert. Diese produzieren Strom, den Lianne aber nur während der Hälfte des Tages nutzt. In der übrigen Zeit wird der Strom ins öffentliche Netz eingespeist. Lars wiederum hat eine Batterie im Keller stehen, die er gerne aufladen würde, um sein Elektroauto und den Geschirrspüler nach Bedarf mit Strom zu versorgen. Der beim regionalen Stromanbieter erhältliche «graue Strom» aus Wasserkraft und Atomstrom ist ihm aber nicht ökologisch genug. Die Alternative, ein Mix aus Solar- und Windkraft, ist zu teuer. Eigentlich würde Lars gerne Liannes Strom kaufen und sie hätte nichts dagegen, die überschüssige Solarenergie an ihren Nachbarn abzutreten. Nur wie?
Hier kommt die Hochschule Luzern ins Spiel: Sie ist Teil des Forschungskonsortiums «Quartierstrom», dem auch die ETH Zürich und Universität St. Gallen sowie Partner aus der Energieindustrie angehören. Das vom Bundesamt für Energie BFE unterstützte Projekt will die Art und Weise, wie in der Schweiz Strom gehandelt und konsumiert wird, revolutionieren. Alexander Denzler, Forscher am Departement Informatik der Hochschule Luzern, erklärt die Idee hinter «Quartierstrom»: «Heute beziehen die Kunden ihren Strom aus zentral organisierten, überregionalen Verteilernetzen. Wir versuchen, eine lokal verankerte, dezentral organisierte Stromversorgung zu entwerfen, indem wir einzelne Quartiere oder Dörfer zu ‹Energie-Inseln› zusammenfassen.»
Inspiration aus New York
Geht es nach Denzler, sind die künftigen Energie-Inseln auf Blockchains gebaut. Die Technologie ist als Basis für Bitcoin und andere Kryptowährungen bekannt geworden. Sie könnte es lokalen Stromerzeugern wie Lianne und Einzelkunden wie Lars nun auch erlauben, ohne zwischengeschalteten Elektrizitätsversorger miteinander Strom zu handeln. Abrechnung und Bezahlung erfolgen direkt zwischen Strom-Konsumenten und -Prosumenten. Als Letztere werden Haushalte bezeichnet, die – je nach Tageszeit – Strom produzieren oder konsumieren.
Eine Blockchain ist eine Art digitales Logbuch. Lars, Lianne und ihre an der Energie-Gemeinschaft beteiligten Nachbarn erhalten via Internet eine verschlüsselte Kopie dieses Buches, in der alle Stromlieferungen und Geldüberweisungen verzeichnet sind. In die Blockchain eingebundene Stromzähler, sogenannte Smart Meter, sorgen dafür, dass der Strom nach dem Kauf innerhalb der Energie-Gemeinschaft fliesst.
«Lokal produzierten Ökostrom zu kaufen, kann attraktiv sein.»
Alexander Denzler, Informatikforscher an der Hochschule Luzern
Blockchain-Experte Denzler und sein Team am Departement Informatik liessen sich von einem Microgrid-Projekt aus New York inspirieren. Im Stadtteil Brooklyn können Bewohner des Viertels Park Slope schon heute mit Strom handeln. «Wir gehen noch einen Schritt weiter als die New Yorker», so Denzler. Bei «Quartierstrom» soll zusätzlich eine App als digitaler Marktplatz fungieren. Darin kann beispielsweise Lars seine Präferenzen – Strom aus Solarenergie und den maximalen Preis pro Kilowattstunde – festhalten. So bestimmt er präzise die Konditionen für sein individuelles Strompaket.
Neue Rolle für E-Werke?
Falls dereinst der Strom grösstenteils lokal hergestellt und verbraucht wird, braucht es dann überhaupt noch Elektrizitätsgesellschaften? «Sie werden nicht verschwinden», meint Alexander Denzler. «Ihre Rolle dürfte sich allerdings verändern.» Die Energiefirmen könnten in ein paar Jahren vor allem die für die Energieversorgung und den lokalen Handel benötigte Infrastruktur wie Stromleitungen und Smart Meter anbieten. Künftige Energie-Inseln wären jedoch weniger auf leistungsstarke, überregionale Stromleitungen angewiesen. Als Folge könnte die Rechnung für die Endkunden tiefer ausfallen.
KLEINES BLOCKCHAIN-EINMALEINS
Wie funktioniert Blockchain?
Das Ziel der erst zehn Jahre jungen Blockchain-Technologie ist, fälschungssichere und dezentral organisierte Datenbanken zu erschaffen. Alle darin getätigten Einträge, seien dies Geldüberweisungen oder Stromlieferungen, werden als Datenblöcke gespeichert. Jeder Block wird als neues Glied einer digitalen Kette beigefügt. Daher der Name Blockchain. Alle beteiligten Parteien erhalten periodisch eine verschlüsselte Kopie der gesamten Kette.
Verbraucht Blockchain viel Strom?
Weil alle beteiligten Parteien die komplette Kopie einer Blockchain erhalten (bei der Kryptowährung Bitcoin sind es alle 10 Minuten), gilt die Technologie als sehr rechenintensiv, und starke Rechner oder Rechnerverbünde brauchen viel Strom – schlechte Voraussetzungen für das Projekt «Quartierstrom», dessen Ziel es ist, Energie effizienter zu nutzen. Daher haben die Forschenden eine Hybridlösung konzipiert: Die Mitglieder einer Energie-Gemeinschaft erwerben via Blockchain ein digitales Guthaben, das sie über mehrere Wochen verbrauchen, während sie Strom beziehen. Sie müssen sich nur mit der Blockchain verbinden, wenn sie ihr Konto wieder aufladen. Rechenaufwand und Energieverbrauch werden so theoretisch stark reduziert.
Wie sicher ist Blockchain?
Aufgrund der dezentralen Struktur gelten Blockchains als sicher. Versucht jemand nachträglich einen Eintrag zu ändern oder zu löschen, werden alle an der Blockchain beteiligten Parteien über diesen Eingriff alarmiert. Problematisch wird es, wenn jemand die Mehrheit der angeschlossenen Rechner kontrolliert, etwa via Hack. So könnten beispielsweise bereits getätigte Transaktionen wieder rückgängig gemacht werden. Je mehr Parteien beteiligt sind, desto unwahrscheinlicher ist dieses Szenario und desto sicherer ist die Blockchain.
Die Forschenden glauben indes nicht, dass dies alleine die breite Bevölkerung dazu bringt, scharenweise einer Blockchain-basierten Energie-Gemeinschaft beizutreten. Strom ist ein sogenanntes Low Involvement Product. Kundinnen und Kunden würden sich kaum dafür interessieren, weil sie wenig pro Einheit bezahlen; Hauptsache, der «Saft» fliesst zuverlässig aus der Steckdose.
Alexander Denzler hofft deshalb, dass bei «Quartierstrom» der Trend, lokal und umweltbewusst zu konsumieren, eine Rolle spielen werde: «Viele Menschen kaufen Fleisch und Gemüse beim Biobauern aus der Gegend. Für sie könnte der Gedanke, lokal produzierten Ökostrom zu kaufen, attraktiv sein.» Prosumenten wiederum hätten die Chance, ihre Solaranlagen zu amortisieren und sogar noch etwas Geld zu verdienen. Ob solche Ideen auf Akzeptanz stossen, untersucht derzeit die ETH Zürich.
Puzzlestück für die Energiewende
Eine weitere Voraussetzung für den Erfolg von «Quartierstrom» ist die Technik. Wie gut diese funktioniert, testen die Forscherinnen und Forscher diesen Sommer in Walenstadt im Kanton St. Gallen. In einem mehrwöchigen Versuchsbetrieb in einem Quartier wollen sie vorab untersuchen, ob die mit der Blockchain verbundenen Smart Meter in den Häusern der Probanden funktionieren.
«Wir haben uns ein Wohngebiet ausgesucht, das repräsentativ ist für den Schweizer Siedlungsdurchschnitt», erläutert Alexander Denzler. In diesem Testnetz können auch virtuelle Ladestationen für Elektroautos eingerichtet werden. In Zusammenarbeit mit dem Elektrizitätswerk Walenstadt schliessen die Forschenden rund 30 Energiebezüger – von der dreiköpfigen Familie bis zum Wohnblock – an die Smart Meter an. Der Versuch bildet den Abschluss des 1,5 Millionen Franken teuren Projekts.
«Dezentrale Energie-Gemeinschaften würden die vorhandene Energie effizienter nutzen als die überregionalen Systeme, die wir heute verwenden.»
Alexander Denzler, Informatikforscher an der Hochschule Luzern
Die Forschenden denken bereits weiter: Falls der Test in Walenstadt erfolgreich verläuft, liesse sich das Konzept prinzipiell auch auf städtischer Ebene hochskalieren – sofern der gesetzliche Rahmen dafür geschaffen wird. Sollte sich «Quartierstrom » auf breiter Ebene durchsetzen, könnte es laut Alexander Denzler zu einem wichtigen Puzzlestück für die Energiestrategie 2050 des Bundes werden: «Dezentrale Energie-Gemeinschaften wie die von Lars und Lianne würden die vorhandene Energie effizienter nutzen als die überregionalen Systeme, die wir heute verwenden. Und sie könnten erneuerbare Energieträger wie Sonne, Wind und Erdwärme besser ins Netz integrieren.»