Roger Abächerli, Studien zeigen, dass für querschnittsgelähmte Menschen chronische Schmerzen, die durch eine Verletzung des Nervensystems ausgelöst werden, oft das grössere Problem sind als ihre Behinderung. Was geschieht dabei im Gehirn?
Die Lähmung durch einen Unfall bedeutet eine sehr plötzliche Veränderung im Körper. Das ist nicht nur für die Psyche ein Schock, sondern auch für das Gehirn. Von einem Moment auf den anderen reagieren zum Beispiel die Beine nicht mehr auf Befehle, auch wenn die Augen dem Hirn mitteilen, dass sie nach wie vor da sind. Dr. André Ljutow, Ideengeber und ehemaliger Chefarzt des Zentrums für Schmerzmedizin (ZSM) in Nottwil, beschreibt das so: «Die Informationen aus dem Nervensystem sind widersprüchlich. Das Gehirn kann diesen Konflikt nicht so schnell lösen und reagiert wie ein abgestürzter Computer mit einer Fehlermeldung: Der Alarm äussert sich als Schmerz.»
Die Therapie «Virtual Walking» ist neu und weltweit einzigartig. Wie funktioniert sie?
Wir schaffen für die Betroffenen für zehn bis zwanzig Minuten den Eindruck, dass sie sich im Spiegel gehend sehen, als ob ihr Körper wieder normal funktionieren würde. Sie sehen eine Art Avatar von sich selbst. So soll das Gehirn die Möglichkeit bekommen, sich an die veränderte Situation anzupassen. Die Illusion schaffen wir mit Hilfe einer Projektion, die das Bild des eigenen Oberkörpers mit demjenigen von gesunden, gehenden Beinen und einer Landschaft zusammenfügt. Der Therapieansatz ist nicht neu, aber erst mit den heutigen Mitteln ist es möglich, wirklich realistisch den Eindruck zu vermitteln, dass man sich selbst gehen sieht. Das Zentrum für Schmerzmedizin hat gemeinsam mit dem Institut für Medizintechnik der Hochschule Luzern diesen Versuch gewagt und so ein einzigartiges System gebaut.
Der Therapieansatz ist nicht neu, aber erst mit den heutigen Mitteln ist es möglich, wirklich realistisch den Eindruck zu vermitteln, dass man sich selbst gehen sieht.
Wie vermitteln Sie Patientinnen und Patienten diese Illusion des Gehens?
Vermittelt wird nicht so sehr das Gefühl des Gehens als vielmehr der Eindruck, man sehe sich selbst beim Gehen zu. Die Patientin oder der Patient sitzt auf einem Elektrorollstuhl, der so umgebaut wurde, dass er für das Becken eine Gehbewegung simuliert. Vor der Patientin oder dem Patienten ist eine Leinwand, in der sich eine Kamera befindet. Sie filmt den Oberkörper des Patienten. Die Wand hinter ihm und seine Beine werden dabei von einem grünen Tuch bedeckt, einem so genannten Greenscreen, der bei der Projektion durch ein anderes Bild ersetzt werden kann. Ein Kurzdistanz-Beamer projiziert einen Film auf die Leinwand, auf dem Beine durch einen Wald spazieren. Das Bild, das die Kamera vom Oberkörper der Person aufnimmt, wird nun auf dieses Bild der Landschaft und der Beine projiziert, so dass sich die Bildebenen zusammenfügen.
Was hat Ihnen und Ihrem Team bei dem Projekt am meisten Kopfzerbrechen bereitet?
Die Software zu schreiben, die die Bildebenen zusammenfügt, war anspruchsvoll, aber sie war nicht die grösste Herausforderung, denn die Software bringt nur dann ein gutes Resultat, wenn die Bilder auch zusammenstimmen – die Grösse, die Winkel, die Distanz. Auch muss alles zeitlich synchron sein, denn jede Ungenauigkeit wird vom Patienten sofort erkannt. Es ging also darum, Folgendes herauszufinden: Aus welcher Perspektive müssen die Beine gefilmt werden? Wie schnell muss sich die Kamera durch die Landschaft bewegen, damit sie mit dem Gehtempo übereinstimmt? Wie gross und in welchem Abstand zum Patienten oder zur Patientin muss die Leinwand sein, dass er oder sie auch etwas nach links oder rechts schauen kann, ohne gleich aus der Illusion herauszufallen? Wo muss die Kamera stehen, die den Oberkörper aufnimmt? Auch mussten wir herausfinden, wie gross der Körper auf der Leinwand sein soll, damit der richtige Eindruck entsteht. Bei der Projektion des Bildes haben wir einfach ausprobiert. Ein Bodenbeamer? Oder hängt er besser an der Decke?
Wie gross ist die Leinwand jetzt? Und wo befinden sich Kamera und Beamer?
Die Leinwand ist etwas mehr als drei Meter breit. Die Kamera befindet sich in der Leinwand, sodass sie von vorne aufnehmen kann, und der Kurzdistanz-Beamer ist an der Decke über der Patientin oder dem Patienten fix montiert.
Wir schaffen für die Betroffenen für zehn bis zwanzig Minuten den Eindruck, dass sie sich im Spiegel gehend sehen, so als ob ihr ihr Körper wieder normal funktionieren würde. So soll das Gehirn die Möglichkeit bekommen, sich an die veränderte Situation anzupassen.
Wie sind Sie bei der Entwicklung des Projekts vorgegangen?
Das kann man getrost als «Trial and Error» beschreiben. Anfangs haben wir auch mal mit Ikea-Spiegeln hantiert und gemessen, wie weit weg man sich normalerweise davor hinstellt. Enorm geholfen hat, dass wir Kolleginnen und Kollegen aus anderen Gruppen hatten, die ihr Fachwissen beisteuern konnten. Die Orthothec AG aus Nottwil und das Institut für Maschinentechnik und Energie der Hochschule Luzern beschäftigten sich mit der Kippbewegung des Stuhls, das Institut für Elektrotechnik hat wichtige Impulse für die bildverarbeitende Software gegeben.
Welcher «Error» ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Unsere erste Tonspur war nur etwa eine Minute lang und hat sich dann wiederholt. Einem Patienten ist aufgefallen, dass er nun schon zum vierten Mal den gleichen Vogel in der genau gleichen Art pfeifen hört… Auch die gehenden Beine werden geloopt, was einen Bruch im Bild ergibt, der stören kann.
Der Hintergrund mit Greenscreen, die Leinwand und die Kamera in der Leinwand – das ist ja ein ziemlicher Aufwand. Ginge das nicht einfacher mit einer 3D-Bille?
Das Problem mit Virtual Reality ist im Moment, dass es dort in der Projektion eine leichte Verzögerung gibt, die sogenannte Latenz. Bei manchen Menschen hat dies unangenehme Nebenwirkungen wie Schwindel oder Kopfschmerzen zur Folge. «Virtual Walking» soll den Lernprozess im Gehirn ermöglichen. Da können wir das Gehirn nicht noch zusätzlich zur Schmerzverarbeitung irritieren. Wenn die für uns relevanten Probleme bei der Virtual Reality gelöst sind, werden wir diese Option sicherlich in Erwägung ziehen. Forschungsarbeiten unsererseits laufen dazu momentan in einem interdisziplinären Projekt an der Hochschule Luzern im Rahmen der so genannten interdisziplinären Themencluster ITC.
«Virtual Walking» kann in Nottwil angewendet werden; erste Patientinnen und Patienten haben bereits gute Erfahrungen damit gemacht. Wie häufig muss die Therapie angewendet werden, und wie lange hält die Wirkung an?
Da die Therapie neu ist, befindet sie sich noch in der Evaluationsphase. Derzeit wird das Virtual Walking über 6 Wochen angewendet, wobei die ersten zwei Wochen je fünf Termine enthalten, die zweiten zwei Wochen je drei Termine und die letzten zwei Wochen je zwei Termine. Wir starten mit 10 min. Wenn die Patientin oder der Patient es toleriert, steigern wir die Behandlung täglich um je 2 Minuten, bis zu 20 Minuten. Es scheint momentan, dass diese einmalige Therapie hilft. Wie lange die Wirkung anhält, ist aktuell noch unklar. Die Patientinnen und Patienten werden drei Monate nach der Therapie vom Zentrum für Schmerzmedizin intensiv nachbefragt, um eventuelle Veränderungen festzustellen. Die letzte Nachbefragung findet 12 Monate nach der Therapie statt. Natürlich haben die Patientinnen und Patienten die Möglichkeit, sich jederzeit bei uns zu melden, sollten augenscheinliche Veränderungen eintreten.
Die Informationen aus dem Nervensystem sind widersprüchlich. Das Gehirn kann diesen Konflikt nicht so schnell lösen und reagiert wie ein abgestürzter Computer mit einer Fehlermeldung: Der Alarm äussert sich als Schmerz.
Nun geht das Projekt in eine nächste Phase. Wo sehen Sie Optimierungspotenzial?
Ja, die nächsten Schritte erforschen wir bereits in dem erwähnten interdisziplinären Projekt. So passt im Moment die Patientin oder der Patient das Tempo seiner Arme demjenigen der Beine auf der Leinwand an. Wir arbeiten daran diesen Mechanismus umzudrehen: Der Patient soll mit den Armen das Tempo seines individuellen Gangs bestimmen können. Aber wie bei allen Ideen, die wir bisher hatten, müssen wir zuerst zeigen, dass dies in der Anwendung umsetzbar ist. So lässt sich wahrscheinlich auch die Beckenbewegung noch verbessern und am Eindruck von grösstmöglicher Realität arbeiten wir noch weiter. Wir werden hier künftig sogenannte digitale Zwillinge einsetzen. Die Therapie könnte auch akustisch unterstützen werden, indem der Ton auf dem rechten und auf dem linken Ohr nicht genau der Gleiche ist. Diese «binauralen beats» werden momentan im Departement Musik der Hochschule Luzern genauer unter die Lupe genommen. Zudem arbeiten die Beteiligten in Nottwil daran, dass die Therapie auch für ähnliche Krankheitsbilder angewendet werden könnte: Zum Beispiel bei Schlaganfällen, Verletzungen mit Nervendurchtrennungen oder Entzündungen von Nerven.