«Die Meinungsvielfalt ist in Gefahr»

Alle zwei Jahre richtet sich das Augenmerk der Schweizer Medienbranche gespannt auf das Medienqualitätsrating. Der Kommunikationswissenschaftler Philipp Bachmann von der Hochschule Luzern ist seit zehn Jahren an der Erstellung des Ratings beteiligt. Im Interview erläutert er, ob die Qualität der Medien tatsächlich nachgelassen hat und warum Printtitel nicht verschwinden werden.

Menschen aus Knete lesen Zeitung.

Philipp Bachmann, in den vergangenen Wochen hat eines der grössten Medienhäuser, Tamedia, erneut einen massiven Stellenabbau angekündigt. Was denken Sie als Kommunikationswissenschaftler, wenn Sie solche Meldungen lesen?

Philipp Bachmann: Das überrascht mich nicht. In den letzten 20 Jahren sind klassische Einnahmequellen wie Abonnements und Werbung dramatisch zurückgegangen. Leserinnen und Leser sind zunehmend weniger bereit, für Journalismus zu zahlen, während ein erheblicher Teil der Werbegelder an Tech-Giganten abfliesst. Der finanzielle Druck auf den Journalismus ist enorm. Der damit einhergehende Stellenabbau stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Meinungsvielfalt und die politische Meinungsbildung dar.

Welche Auswirkungen haben solche Sparmassnahmen auf die Medienbranche?

Die Vielfalt an Meinungen, Perspektiven und Themen ist entscheidend. Ein ausreichendes Mass an Vielfalt kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn es eine Vielzahl unabhängiger Redaktionen sowie Journalistinnen und Journalisten gibt. Die zunehmenden Stellenstreichungen und die Zusammenlegung von Redaktionen zu sogenannten Mantelredaktionen untergraben diese Vielfalt. Das schwächt nicht nur den Mediensektor, sondern auch die Demokratie selbst. Denn eine robuste Demokratie lebt von konkurrierenden Blickwinkeln und Meinungen sowie einer breiten Abdeckung relevanter Themen.

Seit 2016 analysieren Ihre Kolleginnen und Kollegen und Sie die Qualität der Medien. Die Ergebnisse halten Sie alle zwei Jahre im Medienqualitätsrating fest. Ist die Qualität der Medien insgesamt in den vergangenen Jahren schlechter geworden?

Wir analysieren die Qualität reichweitenstarker Medientitel und Sendungen aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz mithilfe zweier Methoden. Zum einen messen wir die Berichterstattungsqualität durch eine umfassende Inhaltsanalyse. Zum anderen erfassen wir die Publikumswahrnehmung der Medienqualität über eine repräsentative Befragung. Die Analyse der inhaltlichen Berichterstattungsqualität zeigte 2022 einen deutlichen Verlust an Themen- und Meinungsvielfalt – ein Bereich, in dem die Qualität spürbar gelitten hat. Allerdings hat die Corona-Pandemie auch positive Entwicklungen angestossen: Viele Medientitel widmeten sich verstärkt gesellschaftlich relevanten Themen und boten tiefere Einordnungen als zuvor. Daher lässt sich bei den Medientiteln kein flächendeckender, kontinuierlicher Qualitätsverfall feststellen – im Gegenteil, in einigen Bereichen wurden sogar Verbesserungen erzielt.

Gab es in den vergangenen Jahren etwas, das Sie bei der Erstellung des Medienqualitätsratings besonders überrascht hat?

Ich war überrascht, dass wir in der Wahrnehmung des Publikums keinen so deutlichen Qualitätsrückgang feststellen konnten, wie ich ursprünglich erwartet hatte. Dann wurde mir klar: Unsere Befragungen erfassen nur jene, die die betreffenden Medienmarken und Sendungen tatsächlich nutzen – und nur diese können ein fundiertes Urteil zur Qualität abgeben. Unzufriedene Nutzer, die den Nachrichtenkonsum bereits eingestellt haben, bleiben in unserer Befragung unberücksichtigt. Doch das stellt keine Schwäche des Ratings dar. Ziel ist es nicht, den Niedergang der Medien zu dokumentieren, sondern auf Basis empirischer Daten zu zeigen, dass es in der Schweiz nach wie vor qualitativ hochwertigen Journalismus gibt – auch wenn dieser unter Druck steht.

Medienqualitätsranking 2024: Echo der Zeit und NZZ top

Das Echo der Zeit belegte zum fünften Mal in Folge den ersten Platz im Gesamtranking. Auch die Neue Zürcher Zeitung, die WOZ, die NZZ am Sonntag und SRG-Angebote wie die Tagesschau und Le Journal blieben im Medienqualitätsrating 2024 Leuchttürme in der Schweizer Medienlandschaft. Im Rating gibt es mit Heidi.news und dem Republik-Magazin zwei bemerkenswerte Neuzugänge: Die beiden Online-Medien setzen auf Hintergrundartikel mit hoher Eigenrecherche und erreichen im Segment der Tages- und Onlinezeitungen auf Anhieb die Plätze zwei und drei. Das St. Galler Tagblatt konnte gegenüber 2022 den grössten Sprung nach vorne machen und erhält dadurch die Auszeichnung «Aufsteiger des Jahres».

Nach welchen Kriterien beurteilen Sie, ob ein Medium guten oder weniger guten Journalismus macht?

Beim Medienqualitätsrating stützen wir uns auf ein Qualitätsverständnis, das tief in der Demokratietheorie verankert ist. Im Zentrum steht für uns die Fähigkeit eines Medientitels, vielfältige und relevante Inhalte zu bieten, diese in den grösseren Kontext einzuordnen und dabei professionelle Standards einzuhalten. In diesem Rahmen schneiden Nachrichtenformate, die seriösen Journalismus zu Themen wie Politik und Wirtschaft betreiben, besser ab als solche, die sich auf boulevardeske Inhalte konzentrieren. Boulevardmedien mögen in ihrem Bereich unterhaltsam und hervorragend sein – doch diese Art von Qualität ist nicht unser Fokus.

In den vergangenen Jahren haben Print-Medientitel massiv an Leserschaft verloren. Wie wirkt sich das aus?

Solange sich Menschen über andere Medien informieren, ist das grundsätzlich kein Problem. Dennoch bedauere ich diese Entwicklung. Ich schätze Zeitungen und E-Paper sehr, da sie mir eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen ermöglichen – frei von den Ablenkungen, die digitale Medien oft mit sich bringen. Für die Demokratie wäre es daher heikel, wenn Zeitungen und andere Qualitätsmedien weiter an Bedeutung verlieren.

Diese Bedenken sind auch in der Politik angekommen. Einige Politikerinnen und Politiker fordern deshalb eine staatliche Medienförderung. Ist das aus wissenschaftlicher Sicht zu begrüssen oder lehnen Sie eine solche Förderung ab?

Letztlich ist die Frage, ob und in welcher Form eine Förderung des Journalismus wünschenswert ist, eine politische – nicht eine wissenschaftliche. Bei staatlicher Unterstützung stellt sich unweigerlich die Frage, nach welchen Kriterien die Mittel verteilt werden sollen und wie dabei die journalistische Unabhängigkeit gewahrt werden kann. Auch im stiftungsfinanzierten Journalismus, wie er in der Westschweiz praktiziert wird, bleibt offen, inwieweit kritisch über die Geldgeber berichtet werden kann. Ich bin einer staatlichen Finanzierung grundsätzlich nicht abgeneigt, doch skeptisch. Wie komplex das Thema ist, zeigen nicht zuletzt die intensiven Debatten rund um den Service public.

Welche Finanzierung wäre aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Vielfalt ist nicht nur eine Frage von Themen und Meinungen – sie ist entscheidend für die Finanzierung. Ein Mediensystem, das auf mehrere Beine gestellt ist, bleibt flexibel und anpassungsfähig. Die Zukunft liegt in einer ausgewogenen Mischung: Einige Medien werden weiter auf ihr Publikum und Werbung bauen, andere auf Gönner, Genossenschaften oder Stiftungen – hinzu kommt der Servic public. Keines dieser Modelle ist perfekt, aber gemeinsam bilden sie ein stabiles Fundament.

Viele Menschen konsumieren heute gar keine Nachrichten mehr. Sie wollen sich so vor dem Dauerbeschuss mit negativen Schlagzeilen schützen. Was sagen Sie als Kommunikationswissenschaftler dazu?

Ich kann gut nachvollziehen, dass man hin und wieder Nachrichten meidet, weil sie traurig stimmen oder frustrieren. Doch problematisch wird es, wenn sich immer mehr Menschen dauerhaft von gesellschaftlich relevanten Themen abwenden. Wenn zu viele sich aus dieser Auseinandersetzung zurückziehen, gerät der Diskurs ins Wanken – mit weitreichenden Folgen für das Gemeinwohl.

Die Menge an Nachrichten hat massiv zugenommen, nicht zuletzt durch die Onlinemedien. Spielt es eine Rolle, in welcher Form ich Nachrichten konsumiere?

Durch die sozialen Medien erleben wir eine deutliche Verschiebung weg von textbasierten hin zu bild- und videolastigen Inhalten. Das geschriebene Wort ist langsam, fordert kognitive Verarbeitung und bietet eine umfassende Information. Bilder und Videos hingegen wirken sofort, emotional und affektiv. Selbst wenn man weiss, dass bestimmte Bilder oder Videos manipuliert sind oder Fake News darstellen, bleiben die ausgelösten Emotionen oft bestehen. Eine Gesellschaft, die auf Schrift basiert, ist aus demokratischer Sicht robuster oder anti-fragiler, als eine, die von schnellen, affektgeladenen Bildern und Kurzvideos dominiert wird.

Welche Rolle spielen Soziale Medien bei der Emotionalisierung?

Eine sehr grosse. Menschen verbringen viel Zeit auf Social Media, wo sie einer Flut an unstrukturierten Informationen ausgesetzt sind, die oft ohne Einordnung bleiben. Im Gegensatz dazu bieten klassische Nachrichtenmedien eine Kuratierungsleistung: Inhalte werden sorgfältig ausgewählt und aufbereitet. Journalistinnen und Journalisten folgen dabei einem Berufsethos und tragen Verantwortung für die Richtigkeit und Qualität ihrer Berichterstattung. Diese Verantwortlichkeiten fehlt auf Social-Media-Kanälen oft. Ich sage nicht, dass Social Media per se schlecht ist und klassische Medien immer gut. Auch hier kommt es auf Vielfalt an Informationsquellen an. Dennoch wäre ein Wiedererstarken des klassischen Nachrichtenkonsums sicher nicht verkehrt.

Könnte angesichts von KI und Fake News diese Kuratierungsleistung von Medien in Zukunft noch wichtiger werden?

Forschende haben diese These kürzlich auf einer grossen Kommunikationswissenschaftskonferenz diskutiert, an der ich teilnahm. Die Annahme lautet, dass Social-Media-Inhalte zunehmend an Glaubwürdigkeit verlieren, und dadurch journalistische Medien profitieren könnten. Denn etablierte journalistische Medien verfügen über Mechanismen und erfahrene Profis, um Fake News zu entlarven und authentische Inhalte zu kennzeichnen. Diese Entwicklung wäre wünschenswert, doch vermutlich bleibt dies eher Wunschdenken.

Seit Jahren wird orakelt, dass es bald keine Printtitel mehr geben wird. Wenn Sie in die Glaskugel schauen: Wird es die gedruckte Zeitung in zehn Jahren im Medienqualitätsrating noch geben?

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte bis 1969 täglich drei Ausgaben. Heutzutage gibt es jedoch effizientere Wege, um Menschen kontinuierlich auf dem neuesten Stand zu halten. Trotzdem bedeutet das Aufkommen von digitalen Medien nicht zwangsläufig das Ende der gedruckten Zeitung. Auch in Zukunft werden Printtitel ihren Platz auf dem Markt und somit im Medienqualitätsrating behalten, wenn auch in geringerem Umfang. Zwar wird ihr Anteil am Medienmix weiter schrumpfen, doch sie werden nicht vollständig durch digitale Medien verdrängt werden.

Warum nicht?
Gedruckte Medien bieten eine ruhige, ungestörte Lektüre fernab der hektischen Online-Welt. Sie ermöglichen eine bewusste Pause vom digitalen Dauerfeuer. Gerade deshalb werden sie bei einem kleineren, besonders interessierten Publikum weiterhin Wertschätzung geniessen.

Wie informieren Sie sich selbst über das Tagesgeschehen?

Ich lese täglich die NZZ und die NZZ am Sonntag – von vorne bis hinten. Früher habe ich mich viel über Twitter informiert, aber seit Elon Musk die Plattform übernommen und in X umbenannt hat, nutze ich sie nicht mehr. Blick.ch steht ebenfalls regelmässig auf meiner Liste, denn als Kommunikationswissenschaftler muss ich wissen, was der reichweitenstarke Boulevard bringt. Auch lese ich das Berner Onlinemedium Hauptstadt, da ich in Bern lebe. Gelegentlich höre ich Echo der Zeit, aber audiovisuelle Formate wie die Tagesschau nutze ich eher selten.

Qualität der Medien unter der wissenschaftlichen Lupe

Das Medienqualitätsrating (MQR) analysiert und bewertet seit 2016 alle zwei Jahre die Qualität reichweitenstarker Medienmarken und Sendungen aus den Bereichen Presse, Radio, Fernsehen und Online in der Deutschschweiz und der Romandie. Auch die Hochschule Luzern ist an der Erstellung beteiligt. Die Berichterstattungsqualität wird durch ein von Menschen durchgeführtes inhaltsanalytisches Verfahren erfasst, während die Wahrnehmung der Medienqualität durch eine repräsentative Bevölkerungsumfrage gemessen wird. Diese doppelte Messung der Medienqualität ist national und international einzigartig. Darüber hinaus untersuchen die Forschenden den gesellschaftlichen Einfluss der Berichterstattung in den Bereichen Politik und Wirtschaft. Das MQR bietet somit einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Medienmarken und Sendungen sowie deren Qualität und Einfluss. Es dient als Orientierungshilfe und externe Referenz für alle, die sich für Medien interessieren – einschliesslich für die Medienschaffenden selbst.

Weitere Informationen unter: medienqualitaet-schweiz.ch

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