Kürzlich flog Anna Kiener zu einer Hochzeit in die Türkei. Als sie im Flieger sass, dachte sie wieder einmal: «Faszinierend, dass dieses superschwere Ding nachher durch die Luft fliegt.» Aber Anna Kiener weiss natürlich als Maschineningenieurin, die zurzeit beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt promoviert, welche Kräfte da wirken. Schon lange ist sie begeistert davon, wie Menschen mit Technik ihre Grenzen verschieben können. «Man versteht die Dinge um sich herum viel besser, wenn man weiss, wie sie funktionieren», sagt die 28-jährige Luzernerin. Sie habe während des Bachelorstudiums den Töff-Führerschein gemacht, «denn seit ich weiss, wie die Maschine funktioniert, vertraue ich ihr mehr». Der Flugschein ist geplant, doch im Moment hat Anna Kiener einfach zu viel anderes um die Ohren.
Kreativ als Ingenieurin
Anna Kiener war früh klar, dass sie Ingenieurin werden wollte. Schon in der Kantonsschule fehlte ihr der technische Aspekt im Unterricht. «Ich dachte mal ganz kurz daran, Kunst zu studieren», erinnert sich Kiener. «Aber wenn man möchte, kann man auch als Ingenieurin einen sehr kreativen Job machen. Das geht oft vergessen.» Mit der Matura der Kantonsschule Seetal in der Tasche bewarb sich Anna Kiener bei der RUAG um ein Jahrespraktikum. «Da hat es angefangen», sagt sie. «Wenn man einmal einen Fuss in der Technik drin hat, lässt sie einen nicht mehr los.»
Mit dem Jahrespraktikum wollte sie sich befähigen, an einer Fachhochschule zu studieren – sie ahnte schon, dass sie die Verbindung von Praxis und Technik lieben würde. Trotzdem begann sie ein Studium der Materialwissenschaften an der ETH Zürich – und brach drei Semester später ab. «Es war mir zu chemielastig», sagt sie heute, «und gleichzeitig ging es zu wenig um Engineering». Eine 30-Prozent-Stelle in der technischen Projektleitung Aerospace bei Maxon bot ihr die Möglichkeit, berufsbegleitend an der Hochschule Luzern Maschinentechnik zu studieren. «Es war cool, weil ich vieles, das ich im Studium gelernt hatte, sofort praktisch umsetzen konnte.»
Faszination Raumfahrt
Anna Kiener ist ein zielstrebiger Mensch. Sie ist sehr neugierig und liebt unkonventionelle Wege. So absolvierte sie ein Erasmus-Semester an der Politechnika Opolska in Polen und gründete ARIS mit, die Akademische Raumfahrtinitiative Schweiz, die Studierenden die Arbeit an praktischen Projekten ermöglicht. Sie liess sich in einem Space Camp an der Bauman Moscow State Technical University (BMSTU) von der russischen Begeisterung für die Raumfahrt anstecken und baute mit Studierenden eine Rakete für eine Intercollegiate Rocket Engineering Competition (IREC) in den USA.
Chancen packen
Als sie für das IREC-Projekt mit ETH-Studierenden zusammenarbeitete, sah sie sich ergänzende Unterschiede: «Die ETHler haben fundierte theoretische Kenntnisse, während wir pragmatischer an ein Problem herangehen und schneller mal sagen: ‘Lasst es uns doch einfach ausprobieren.’ Das passte hervorragend zusammen.»
Als sie sich nach einem Master-Studiengang umsah, landete sie bei Prof. Luca Mangani, der im Institut für Maschinen- und Energietechnik eine Forschungsgruppe am Kompetenzzentrum Fluidmechanik und numerische Methoden leitet. «Ich war unsicher, ob ich das können würde, weil ich damals fast nichts von Strömungstechnik wusste», erinnert sich Anna Kiener. «Aber Mangani sagte, um das zu lernen, würde ich ja den Master machen.» Ihr gefiel die Strömungstechnik, weil sie sowohl für Luft- und Raumfahrt als auch für den Motorsport essentiell ist und Theorie, Testing und Simulation miteinander verknüpft. Am Ende schrieb sie ihre Master-Thesis über die Frage, wie Machine Learning die Turbulenzmodellierung in Strömungssimulationen optimieren kann.
Als sie mit dem Master in der Tasche einen Job suchte, bot das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) eine Promotionsstelle für Maschinelles Lernen zum Lösen partieller Differentialgleichungen an. Anna Kiener bekam den Job und arbeitet jetzt für drei bis vier Jahre am DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik in Braunschweig. «Die Leute hier sind total nett», sagt sie, «aber wegen Corona arbeite ich im Home Office.» Sie hatte Glück im Unglück: Gleichzeitig mit ihr fingen zwei andere Doktoranden an, auf demselben Spezialgebiet wie sie. «Wir hatten die gleichen Startschwierigkeiten und gehen den Weg gemeinsam», sagt Anna Kiener. «Das hilft sehr.»
Über ihre Zukunft macht sie sich keine Sorgen, denn der Bereich des Machine Learning sei gerade «en vogue». «Allerdings habe ich aufgehört, langfristig zu planen», sagt Anna Kiener und lacht: «Denn ich hatte weder vor, einen Master zu machen, noch habe ich je geplant zu promovieren.»