Zum Interviewtermin erscheint Zoe Röllin mit Koffer: Soeben ist die VR-Filmemacherin aus Seoul zurückgekehrt. In der südkoreanischen Hauptstadt stellte sie ihre Arbeit im Rahmen eines Netzwerkanlasses in einer örtlichen Galerie aus. Den Event hatte die Schweizer Botschaft mitorganisiert.
Nur wenige Wochen vor ihrem Koreaaufenthalt verschlug es Röllin bereits nach Venedig an die Filmfestspiele. Dort war ihr 360°-Animationsfilm «Perennials» nominiert. Und bald wird sie ihren Koffer erneut packen und nach Prag an ein VR-Festival reisen, danach steht ein Festival in Köln auf dem Programm.
Die 27-Jährige kommt herum: Zwar hat sie an der Hochschule Luzern studiert. Seit ihrem Abschluss im Bachelor Illustration war sie aber hauptsächlich international tätig. «Der 360°-Film ist innerhalb der VR- und AR-Szene eine Nische, erst recht in der Schweiz. Deshalb verteilen sich meine Kontakte und mein Netzwerk über die ganze Welt», sagt Röllin.
Was ist ein 360°-Film?
Im Gegensatz zum konventionellen 2D-Film spielt sich der 360°- oder VR-Film im virtuellen Raum ab. Das Publikum betrachtet ihn nicht auf einem Bildschirm oder einer Kinoleinwand, sondern via VR-Brille. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können sich während der Handlung frei umsehen. Dies fördert einerseits die Immersion, also das Eintauchen in eine Geschichte. Andererseits funktionieren klassische erzählerische Instrumente wie Schnitte und Kamerabewegungen nicht mehr in gewohntem Mass. VR-Filmemacherinnen und -Filmemacher wie Zoe Röllin müssen das Erzählen im 360°-Film somit neu denken. Die HSLU erforschte die Grenzen und Möglichkeiten des VR-Films in einem gemeinsamen Projekt mit dem Schweizer Fernsehen SRF.
Der Controller wird zum Pinsel
Zoe Röllin dreht ihre 360°-Filme nicht mit der Kamera. Sie malt diese mit dem Grafikprogramm Quill. Dazu trägt sie eine VR-Brille: «Ich kann die Controller der VR-Brille wie einen Pinsel führen», sagt sie. Jede Handbewegung mit dem Controller entspricht einem virtuellen Pinselstrich. So überträgt die Filmemacherin nach und nach die von Hand gezeichneten Figuren, Pflanzen und Gebäude in den virtuellen Raum.
Berührungsängste mit technischen Hilfsmitteln kennt die Baselbieterin nicht. Durch ihre Mutter kam sie früh in Kontakt mit Videogames und Grafik-Tablets. Als Maturarbeit realisierte sie einen Animationsfilm. Die ersten Versuche, im virtuellen Raum Geschichten zu zeichnen und zu erzählen, unternahm Röllin dann während des Studiums: Sie besuchte einen VR-Zeichnungsworkshop, den ein Künstler vom Fumetto Comic Festival leitete.
Als die HSLU kurze Zeit später eine VR-Brille anschaffte, verbrachte sie beinahe die gesamten Sommerferien in dem eigens dafür eingerichteten Räumchen. Sie machte sich mit der virtuellen Realität und ihren Möglichkeiten vertraut. Mit ihrer Faszination fürs virtuelle Storytelling war Röllin unter ihren Mitstudierenden anfangs weitgehend allein. Sie rechnet der HSLU ihre Offenheit gegenüber neuen Technologien daher umso höher an. «Ich wurde immer dazu ermuntert, mit der VR-Brille zu experimentieren.»
Wegen ihrer Vorliebe für bewegte Bilder überlegte sie sich während des Studiums sogar kurz, in die Studienrichtung Animation zu wechseln. Sie entschied sich aber für den Abschluss in Illustration. Denn das, was sie an einem Animationsprojekt besonders interessiere, sei das Ausarbeiten des Storyboards, das Skizzieren der Geschichte, das Festlegen der Bildsprache – eben klassische Illustrationsarbeiten.
Was zählt, sind starke Geschichten
Röllin realisierte nach dem Studium eine VR-Doku fürs Badener Filmfestival Fantoche, publizierte ihre eigenen Filmprojekte auf der Quill-Plattform, baute sich langsam ein Netzwerk auf. Dann wurde sie von Meta für einen Animationsfilm angefragt – der US-amerikanische Tech-Konzern betreibt Facebook und ist einer der grössten Hersteller von VR-Brillen. So entstand «Perennials».
Der 360°-Film erzählt die Geschichte eines Mädchens, das mit seinem Onkel das verlassene Ferienhaus des Grossvaters aufsucht. Dort erwachen Erinnerungen an vergangene Zeiten und die Vorstellungen des Mädchens über die Geschichten, die sich in dem Haus verbergen. Es sind atmosphärisch dichte Bilder, die eine zarte Bildsprache sprechen. «Ich würde meinen Stil als subtil, feinfühlig und eher zurückhaltend beschreiben», sagt Röllin.
Ob auf Papier, in 2-, oder 3-D, Zoe Röllin stellt in ihren Arbeiten immer die Story ins Zentrum: «Eine starke Geschichte ist eine starke Geschichte. Egal, welche Technologien ich dafür anwende.» In der VR ist die Erzählung in 360 Grad möglich. Dies sei einerseits faszinierend, andererseits könne man auch wichtige Momente in der Geschichte verpassen. «Etwa dann, wenn sich der Zuschauer im virtuellen Raum umdreht und sich die Handlung in seinem Rücken abspielt.»
Bei der Ausarbeitung des Storyboards für ein VR-Projekt überlege sie deshalb immer, wohin das Publikum seinen Blick wenden soll und wann es die Gelegenheit hat, sich umzusehen. Um die Aufmerksamkeit auf das Geschehen zu lenken, arbeitet Röllin mit unterschiedlichen Kontrasten – farblichen aber auch gestalterischen – und setzt gezielt Audio-Elemente ein, etwa Musik oder Umgebungsgeräusche.
Eine Pionierin auf ihrem Gebiet
An «Perennials» hat Röllin eineinhalb Jahre gearbeitet. Gewonnen hat der Film am Festival in Venedig zwar nicht, aber das Erlebnis, daran teilgenommen zu haben, möchte Röllin nicht missen. «Es war unglaublich, dort auf dem roten Teppich zu stehen, über den auch Schauspieler gingen, die ich kenne.» Venedig sei ein «riesiger» Treffpunkt für die VR-Szene und sie habe viele neue Kontakte knüpfen können. «In meinem Spezialgebiet, der VR-Animation, bin ich mittlerweile international etabliert. In der Schweiz bin ich wohl so eine Art Pionierin auf diesem Gebiet», sagt die freischaffende Künstlerin.
Kürzlich heuerte das Produktionsstudio «Very Cavaliere Productions» Zoe Röllin als Art Director an. Das New Yorker Unternehmen produziert derzeit die VR-Anthologie «Reimagined», in der Märchen aus aller Welt neu interpretiert werden. Röllin arbeitet dafür hauptsächlich von ihrem Wohnort in Zürich aus – die Koffer muss sie vorab für den Festivalbetrieb packen.
Ihr Wissen gibt Zoe Röllin hierzulande zudem als Gast-Dozentin an der HSLU im Bachelor Illustration Fiction weiter. Sie unterrichtet auch im Rahmen des interdisziplinären Moduls «The Immersive Laboratory». Hier begleitet sie Studierende bei ihren Projekten und führt Workshops durch. Ihre Arbeit sei bisweilen etwas einsam: «Deshalb schätze ich es umso mehr, zu sehen, was andere machen.»