Der demographische Wandel ist längst Realität: Heute kommen in der Schweiz auf zehn Personen im berufstätigen Alter drei über 65-Jährige. In 30 Jahren werden es bereits fünf Pensionierte sein. Laut Bundesamt für Statistik ist die Lebenserwartung der Menschen seit dem Jahr 2000 um weitere drei Jahre auf 85 bei den Frauen respektive vier Jahre auf 81 bei den Männern angestiegen. Tendenz: weiter steigend.
Aber was heisst es überhaupt, alt zu sein? Sind alle Menschen ab einem gewissen kalendarischen Alter automatisch alt? «Alter ist eine sehr individuelle Definition», weiss Mario Störkle, Dozent und Altersforscher an der Hochschule Luzern. Gemäss einer Studie des Gottlieb Duttweiler Institutes fühlen sich 60- bis 70-Jährige durchschnittlich zwölf Jahre jünger als sie tatsächlich sind. Bei den 70- bis 80-Jährigen sind es sogar 16 Jahre.
«Man ist so alt, wie man sich fühlt»
«Es stimmt natürlich, dass die Menschen heute älter werden als in den Jahrzehnten vorher. Gleichzeitig sind die älteren Menschen auch gesünder und fitter als früher», so Störkle. Mit den Baby-Boomern gehe derzeit eine neue Generation älterer Menschen in Rente. Eine Generation, die ihre Bedürfnisse genau zu artikulieren weiss, aktiv ist und sich nicht einfach mit dem «Seniorenteller» im Altersheim zufriedengibt. Störkle: «Viele ältere Menschen stören sich daran, dass ihr Alter mit Vulnerabilität gleichgesetzt wird. Trotzdem ist dieses Altersbild nach wie vor weit verbreitet in unserer Gesellschaft.» Das habe sich auch während der Corona-Pandemie bemerkbar gemacht, wo alle Menschen ab 50 Jahren automatisch zur Gruppe der besonders gefährdeten Personen gezählt wurden. 71 Prozent von ihnen fühlen sich aber nicht der Risikogruppe zugehörig, wie eine Studie der Hochschule Luzern zeigt. «Die Befragten nehmen eher eine individuelle Risikoeinschätzung vor, die sich nicht allein am kalendarischen Alter orientiert», sagt Störkle, der die Studie geleitet hat.
Laut dem Experten sei es wichtig, die ältere Bevölkerung nicht als homogene Gruppe zu betrachten. «Die Alten» werden häufig in ein eigenes soziales Milieu eingeteilt, dem man spezifische Werthaltungen und Vorstellungen über das Leben im Alter zuteilen kann. Die Frage, wie aktiv jemand im Alter sein kann und möchte, werde aber sehr individuell beantwortet und hänge auch von verschiedenen Faktoren ab: «Es ist nicht so, dass alle Seniorinnen und Senioren, die sich nicht mehr besonders aktiv verhalten, einfach zu alt dafür sind. Gewisse wollen das einfach nicht. Aber auch sie fühlen sich deshalb nicht automatisch als Teil einer vulnerablen Gruppe.» Nicht vergessen dürfe man zudem, dass sich viele ältere Menschen ein aktives Leben – so wie wir es uns vorstellen, mit vielen Hobbies und Reisen – finanziell schlicht nicht leisten können.
Mehr als die Hälfte engagiert sich freiwillig
Ältere Menschen werden häufig mit dem Vorurteil konfrontiert, schwach, krank und nutzlos zu sein. «Wer ständig solchen Vorurteilen ausgesetzt ist, glaubt sie irgendwann selbst», so der Altersforscher. Dies führe dazu, dass sich viele ältere Menschen selbst isolieren und sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Deshalb sei es besonders wichtig, das an Defiziten orientierte Altersbild loszuwerden. Denn wie man es auch dreht und wendet: Noch nie hatte die ältere Bevölkerung nach der Pension so viele gute Jahre vor sich wie heute. «Die Allgemeinheit sollte eigentlich ein grosses Interesse daran haben, die Älteren ins gesellschaftliche Leben zu integrieren und ihren gesellschaftlichen Wert anzuerkennen», meint Mario Störkle.
Dass dieser Wert gross ist, zeigt ein Blick auf die Statistik der Freiwilligenarbeit: So leisteten im Jahr 2020 gemäss Freiwilligen-Monitor Schweiz mehr als die Hälfte aller 60- bis 74-Jährigen freiwillige Arbeit ausserhalb von Vereinen oder Organisationen. Dazu gehören etwa die Betreuung von verwandten und nichtverwandten Kindern oder Betagten, die Mithilfe bei Veranstaltungen oder die Unterstützung bei gemeinnützigen Projekten wie Fahrdiensten und der Nachbarschaftshilfe. Ausserdem sind 45 Prozent der Menschen in dieser Altersgruppe ehrenamtlich in einem Verein oder einer Organisation tätig.
«Ältere Menschen entdecken oftmals im Alter ihre altruistische Seite neu und erkennen in der gemeinnützigen Arbeit eine Chance, die Gesellschaft mitzugestalten», sagt Störkle. Ältere Menschen seien denn auch prädestiniert für freiwilliges Engagement. Einerseits bringen sie häufig viel Erfahrung mit beim Ausüben einer Tätigkeit – oftmals wählen sie für ihre Freiwilligenarbeit einen Bereich, in dem sie ihre frühere berufliche Tätigkeit weiterführen können, beispielsweise als ehemalige Lehrerin im Nachhilfeunterricht für Kinder. Andererseits haben Pensionierte mehr Zeit und Freiheit, ihren Alltag so zu gestalten, wie sie möchten. «Diesen Umstand nutzen sie, um sich in einem völlig neuen Umfeld freiwillig zu engagieren und so auch andere Menschen und deren Lebenswelten kennenzulernen», so der HSLU-Experte.
Nicht zuletzt engagieren sich Ältere besonders stark in der Betreuung von Enkelkindern und pflegebedürftigen Verwandten. Ein Blick in den Freiwilligen-Monitor zeigt: Das vielzitierte «Enkelhüten» ist nicht einfach ein Klischee, sondern macht einen beachtlichen Teil des informellen Engagements der Schweizer Bevölkerung aus. Kinderbetreuung wird in der Schweiz am zweithäufigsten von der Altersgruppe der 60- bis 74-Jährigen geleistet, direkt nach den 30- bis 44-Jährigen.
«Wir als Gesellschaft tun gut daran, im Alter eher eine Chance als ein Defizit zu sehen.»
Mario Störkle, Altersforscher an der HSLU
Einbruch der Freiwilligenarbeit während Corona
Was passiert, wenn die Älteren ihr freiwilliges Engagement einmal nicht ausüben können, hat die Corona-Pandemie mit den Schutzmassnahmen wie Social Distancing und Kontaktbeschränkungen gezeigt. Mario Störkle hat dies mit seinem Forschungsteam genauer untersucht. Befragt wurden Personen, die sich freiwillig engagieren und zu derjenigen Personengruppe gehören, die vom Bundesamt für Gesundheit aufgrund ihres Alters als besonders gefährdet eingeordnet wurde. Die Studie zeigt: Die erste Corona-Welle im März 2020 hat dazu geführt, dass 14 Prozent der älteren Freiwilligen ihre Tätigkeit vollständig und dauerhaft beenden mussten, bei weiteren elf Prozent war das zumindest teilweise der Fall. Ein Grossteil der Befragten musste die freiwillige Tätigkeit falls möglich auf Online-Kanäle auslagern oder sie an jüngere Mitmenschen übergeben. «Dieser Umstand hat teilweise zu prekären Situationen geführt», erläutert Störkle. So seien verschiedene Dienstleistungsbereiche, die auf Freiwilligenarbeit angewiesen sind, komplett zusammengebrochen. «Uns wurde von gemeinnützigen Essensbringdiensten berichtet, die Mühe hatten, ihre Versorgung aufrecht zu halten, da ihnen plötzlich kaum noch ältere Freiwillige zur Verfügung standen.»
Während der Coronakrise konnte der Wegfall des freiwilligen Engagements von den Älteren teilweise kompensiert werden, in dem die Jüngeren eingesprungen sind. Im normalen Alltag ist das nicht möglich. Auch wenn viele Fragen wie die Finanzierung der Altersvorsorge oder das Sicherstellen von genügend Pflegeplätzen noch nicht gelöst sind, ist sich Mario Störkle sicher: «Wir als Gesellschaft tun gut daran, im Alter eher eine Chance als ein Defizit und unsere älteren Mitmenschen als gesellschaftliche Stütze statt als Last zu sehen.»
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