Sirnach ist eine typische Schweizer Gemeinde: auf der einen Seite die Autobahn A1, auf der anderen viel Landwirtschaft, dazwischen Bahnhof, Schiessstand, Migros, schöne Natur. Sirnach hat auch ein typisches Problem: In der Thurgauer Gemeinde fallen pro Kopf und Jahr circa vier Tonnen Treibhausgasemissionen für Heizung, Warmwasser und Mobilität an. Dies ist Schweizer Durchschnitt und damit weit entfernt von Netto-Null.
Fehlende Basis für gute Energierichtpläne
Aber Sirnach hat einen Plan. Der örtliche Energieversorger und Energiedienstleister ews soll die Gemeinde dem Netto-Null-Ziel näherbringen. Dazu wird unter anderem ein neuer Energierichtplan erstellt. Eine Aufgabe, vor der viele Gemeinden stehen. Und eine Herausforderung, weil die öffentlichen Daten, die es dazu braucht, oft schlecht nachgeführt sind. Wie wird geheizt? Wie hoch ist der Wärmebedarf und wie hoch der Stromverbrauch? Wie viele Elektroautos sind in der Gemeinde gemeldet?
«Ohne diese Daten ist es schwer zu beurteilen, wo man steht und welches die richtigen Hebel sind, um anzusetzen», sagt ews-Geschäftsführer Thomas Etter. «Aus meiner Sicht ist es nicht zielführend und effizient, wenn jede Gemeinde eine Energieberatung beauftragt, welche in aufwendiger Arbeit und Recherche die Daten zusammensammelt und ein Konzept erstellt, welches dann zu oft in einer Schublade landet.» Die ews schloss sich daher einem Forschungsprojekt der Hochschule Luzern an.
Forschung, die nach Zauberei klingt
Die HSLU entwickelt im Rahmen des SWEET Konsortiums EDGE für das Bundesamt für Energie BFE eine digitale Plattform, mit der Gemeinden ihre Energiewerte und -potenziale auf einen Blick sehen (mehr zu SWEET und EDGE in der Box). Um das zu schaffen, muss das Forschungsteam aus schlechten Daten «gute» machen.
Was wie Zauberei klingt, geht in der Praxis so: Zuerst führen die Forschenden verschiedene öffentliche Datenquellen zusammen. Dabei müssen sie fehlende Informationen ergänzen und Methoden entwickeln, um diese zu schätzen. Anschliessend kalkuliert das Team den Energiebedarf eines jeden Gebäudes in der jeweiligen Gemeinde. Hierfür müssen Erkenntnisse über die Gebäude, deren Nutzung und das Potenzial für den Zubau erneuerbarer Energien gewonnen und zusammengeführt werden.
«Wir haben nicht mehr als eine Adresse», sagt Projektleiter Philipp Schütz zur Ausgangslage. Wie viele Personen an dieser Adresse leben, wie sie heizen, und in welchem Zustand das Gebäude ist, wissen die Forschenden nicht. «Mich faszinieren Probleme, bei denen man aus wenig Informationen möglichst viel herauslesen kann», sagt Philipp Schütz über die Motivation, sich diesem Projekt anzunehmen.
Sieben Köpfe, drei Jahre und Millionen von Daten
Sieben Personen haben über drei Jahre daran gearbeitet, bis die Daten für alle Gemeinden in der Schweiz berechnet waren. Sie haben 1,85 Millionen Einträge des eidgenössischen Gebäude- und Wohnungsregisters verarbeitet, haben Wärmebedarf und Elektrizitätsverbrauch modelliert sowie Annahmen über die Gebäudeentwicklung bis 2050 integriert.
Zwischendurch hat das Projektteam auch ein Messgerät getestet, das auf Kommunalfahrzeugen durch Gemeinden fährt und dabei Schadstoffbelastungen in der Luft misst. Damit lässt sich schätzen, wo mit Holz, Gas oder Wärmepumpe geheizt wird. Denn es kann vorkommen, dass in einem Register eine Ölheizung eingetragen ist, während in einem anderen Register von einem Holzofen die Rede ist. Doch nun können die Forschenden ihre Arbeit der Öffentlichkeit bald auf einer digitalen Plattform zur Verfügung stellen.
Ist, Kann und Soll auf einen Klick
Im aktuellen Prototyp der Plattform muss lediglich der Namen der Gemeinde ins Suchfeld eingetragen werden und schon erscheinen Grafiken zu Gebäuden, Elektrizität, Wärme, Mobilität und CO2-Emmissionen. Auf einer Karte werden zum Beispiel alle fossilen Heizungen angezeigt. «Wir können in ein Quartier hineinzoomen und schauen, ob sich dort ein thermisches Netz lohnen würde», sagt Projektleiter Thomas Etter. Ausserdem bietet die Plattform eine Potenzialeinschätzung von Photovoltaik über Wind bis Biomasse. Für die Gemeinde Sirnach zeigt sich etwa, dass erst 8,5 Prozent des gesamten PV-Potenzials ausgeschöpft sind.
Heute ein Impuls, morgen schon Standard?
Als Projektpartner leistet die ews einen wichtigen Beitrag: Einerseits zeigt sich, ob die Plattform echte Bedürfnisse der Gemeinde beantwortet; und andererseits, ob die «Datenzauberei» der Forschenden auch tatsächlich funktioniert hat. Der Energieversorger vergleicht die Schätzungen der HSLU mit den eigenen, echten Messwerten. Erste Resultate ergeben eine gute Treffgenauigkeit. Mit den neuen Erkenntnissen kann das System nun optimiert werden.
Der ews-Geschäftsführer Thomas Etter ist sich sicher, dass die Plattform dereinst für alle Gemeinden in der Schweiz ein wertvolles Werkzeug für die klimaneutrale Energieversorgung sein kann. «Das könnte schweizweit ein Impuls sein, sich endlich auf den Weg zu Netto-Null zu machen», sagt er und fügt an: «Wenn für alle Gemeinden diese Daten übersichtlich an einem Ort aufbereitet zur Verfügung stehen, dann erlaubt dies Vergleiche untereinander. Das schafft Austausch und einen positiven Wettbewerb.»
Philipp Schütz von der HSLU sagt: «Die klimaneutrale Energieversorgung ist eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit. Aber es gibt noch zu wenig unabhängige Informationen, damit wir als Gesellschaft wissen, wie diese zu meistern ist». Er und sein Team werden die Plattform im Rahmen des SWEET Konsortiums EDGE weiter ausbauen. Doch schon jetzt ist für den Projektleiter klar: «Wenn Gemeinden und Energieversorger auf uns zukommen, und fragen, ob wir ihnen helfen können, dann wissen wir, dass wir etwas dringend notwendiges geschaffen haben».