Urs Wagenseil, wo haben Sie das letzte Mal Ferien gemacht?
In Obersaxen, im Kanton Graubünden. Dort war ich in den Skiferien.
Da denken viele an weisse Pistenstreifen in grünen Hängen… Gehen Sie trotz Schneekanonen und Klimaerwärmung noch ohne schlechtes Gewissen Skifahren?
Absolut. Allein schon, weil Ferien im eigenen Land meistens die nachhaltigste Wahl sind. Sicher, man kann die ökologischen Aspekte von Schneekanonen und Pistenpräparierungen nicht ganz wegdiskutieren. Doch wenn es keinen Schnee mehr gibt, haben wir auch viele ökonomische und soziale Probleme. Bevor man den Skitourismus also für seine Infrastruktur anprangert, muss man bedenken, dass er die Lebensader so mancher Region ist.
Bezieht sich die allgemeine Vorstellung, was nachhaltiger Tourismus ist, denn zu einseitig auf Umweltaspekte?
Bis anhin hat man sich tatsächlich vor allem darauf fokussiert, wie Tourismus die Umwelt und neuerdings den Klimawandel beeinflusst. Inzwischen gibt es aber weltweite Standards, die Nachhaltigkeit in einem breiteren Kontext betrachten. Dabei geht es nicht nur um ökologische, sondern auch um ökonomische, kulturelle und soziale Komponente. Also um Löhne, Arbeitsplätze und den regionalen Wirtschaftskreislauf, aber auch um den Erhalt von Kulturerbe und ein funktionierendes Sozialsystem. Jeder zehnte Job weltweit ist mit dem Tourismus verbunden. Ob Mallorca, Sylt oder Savognin: Der Tourismus ist vielerorts DIE Stütze der regionalen Entwicklung.
Man darf die ökologische Dimension also nicht isoliert betrachten?
Genau. Das sieht man gut am Beispiel Corona: In Ländern, in denen der Tourismus komplett einbrach, verloren viele Menschen ihre Existenzgrundlage. Sie konnten Rechnungen nicht mehr bezahlen, der Konsum brach ein, das Sozialsystem kam in Schieflage. Interessanterweise wird genau dann, wenn wichtige Einnahmen fehlen, auch sehr schnell beim Naturschutz gespart. Denn dieser lebt von Kurtaxen und Steuern der Tourismusunternehmen und Gemeinden. Der Fokus sollte also nicht darauf liegen, wie man Leute vom Reisen abhält – sondern wie man sie dazu bringt, bewusster zu reisen.
Viele sehen doch gerade Ferien als Anlass, sich etwas zu gönnen. Dafür nehmen sie im Alltag die eine oder andere Einschränkung in Kauf.
Ein bisschen etwas zu machen ist immer besser als nichts. Insgesamt muss unser Effort aber nicht nur im Alltag, sondern auf allen Ebenen grösser werden. Klar wollen wir ab und an reisen, etwas erleben, abschalten. Aber es muss nicht rücksichtslos sein: Was wir uns gönnen, darf nicht auf Kosten anderer gehen.
Richten wir den Blick auf die Schweiz: Wo stehen wir hierzulande, wenn es um nachhaltigen Tourismus geht?
Eigentlich müssten wir weiter sein. Denn wir haben ein sehr solides Grundgerüst: Unsere Gesetze in den Bereichen Naturschutz, Sozialpolitik und Kultur sowie unsere ökonomische Stärke. Im Vergleich stehen wir global gesehen zwar gut da, sind aber nicht in allen Teilbereichen so weit vorne, wie wir könnten. Glücklicherweise gibt es heute eine neue Tourismusstrategie des Bundes, in der es explizit auch um eine gesamtheitliche Nachhaltigkeitsförderung geht. Oder die Nachhaltigkeitsinitiative «Swisstainable», welche Schweiz Tourismus vor zwei Jahren auch mit Hilfe der HSLU ins Leben gerufen hat.
Swisstainable: Nachhaltigkeitsprogramm für den Schweizer Tourismus
Swisstainable wurde 2021 von Schweiz Tourismus zusammen mit der Hochschule Luzern und dem Schweizer Tourismussektor als Nachhaltigkeitsprogramm «von der Branche für die Branche» entwickelt. Es macht das Nachhaltigkeitsengagement des Tourismussektors sichtbarer und schafft Transparenz und Orientierung für die Gäste. Alle Betriebe, die sich der Bewegung anschliessen und sich am Programm beteiligen, können das Signet Swisstainable nutzen. Um die unterschiedlichen Voraussetzungen und den unterschiedlichen Grad des Engagements berücksichtigen zu können, ist das Programm in drei Levels gegliedert – die Basis aller drei Levels bildet das Commitment zur Nachhaltigkeit. Swisstainable ist keine Zertifizierung, sondern bezieht sich auf bestehende nationale und internationale Nachhaltigkeitszertifizierungen.
Darüber hinaus lanciert die Hochschule Luzern nun einen Studiengang rund um nachhaltigen Tourismus, der sich an Studierende aus aller Welt richtet. Weshalb?
Internationaler Austausch schafft viel Lernpotenzial: Man vergleicht, wird sensibilisiert und erkennt, was an anderen Orten besser oder schlechter gelöst ist. So ist auch der neue Bachelor-Studiengang angedacht, der internationale Studierende zusammenbringt und zu Expertinnen und Experten für nachhaltigen Tourismus macht. Wenn Fachwissen in diesem Bereich überall auf der Welt geteilt und multipliziert wird, haben wir bereits viel erreicht.
Gibt es auch in anderen Ländern Initiativen, die Hoffnung auf Veränderung machen?
Ja, zum Glück. Vielerorts haben Regierungen den Ball aufgenommen und sich verpflichtet, im nachhaltigen Tourismus vorwärtszumachen, zum Beispiel in Slowenien, Botswana oder Singapur. Um ein Extrembeispiel zu nennen: In der Türkei hat der Staat bestimmt, dass die landesweit gut 22’000 Hotels bis in neun Jahren eine Nachhaltigkeitszertifizierung haben müssen. Wer die Etappenziele nicht erreicht, dem wir die Hotellizenz entzogen. Klar kann man sagen, das ist zentralistisch. Andererseits ist es ein Bekenntnis: Ohne Druck passiert zu wenig.
Welche Rolle spielt insgesamt die Politik – und wie viel kann «bottom-up» erreicht werden?
Beides ist wichtig. Die Gesetze, Vorgaben und Förderinstrumente von «oben» sind zwar träge, aber da finden die grossen Weichenstellungen statt. Nichtsdestotrotz braucht es auch die Destinationen und die touristischen Anbieter wie Hotels, Bergbahnen und Reiseveranstalter, die sagen: «Wir wollen das». Es hat immer Vorreiter gegeben, die sich schon früh für Nachhaltigkeit eingesetzt haben – einfach, weil sie es sinnvoll und richtig fanden. Heute beobachten wir, dass der Druck wächst, auch «bottom-up» auf Anbieterseite etwas zu machen. Viele Unternehmen sind inzwischen viel eher bereit, nachhaltiger zu werden. Und engagieren sich aktiv in diesem Bereich.
Weil dies von den Kundinnen und Kunden auch mehr gefordert wird?
Von einigen, ja. Auf Plattformen wie Booking oder Anbietern wie Easyjet Holidays und anderen kann man heute per Mausklick nach nachhaltigen Kriterien filtern, bei Reiseveranstaltern ein Angebot mit Nachhaltigkeitszertifikat aussuchen. Die Sache ist nur die: Oftmals klafft eine grosse Lücke zwischen dem, was die Kundinnen und Kunden vermeintlich einfordern und dem, wie sie sich selbst auch verhalten. Zum Beispiel entscheiden sich lediglich fünf Prozent der Reisenden dafür, für ihre Flüge die zusätzliche CO2-Kompensation zu bezahlen – obwohl dies heute mit einem einfachen Haken im Buchungsprozess gemacht werden könnte. Fordern und Wünschen sind halt etwas anderes als selbst Aktivsein.
Das heisst, als Einzelpersonen haben wir noch einige Hausaufgaben zu machen.
Wir müssen zuerst bei uns selbst hinschauen, bevor wir andere zum Sündenbock machen. Im Sinne eines kritischen Hinterfragens: Ist diese Reise wirklich nötig und wichtig? Und wenn ja, wie kann ich sie so nachhaltig wie möglich gestalten? Welches Transportmittel wähle ich? Auf welche Art buche ich mein Hotel? Wie sorge ich dafür, dass ich möglichst direkt die Wirtschaft und die Bevölkerung vor Ort unterstütze? Wir müssen wegkommen vom hektischen, zum Teil auch etwas rücksichtslosen und egoistischen Reiseverhalten.
Grundsätzlich gefragt: Wird Tourismus überhaupt je nachhaltig sein?
Reisen von A nach B und zurück sind per se nie neutral. Wir hinterlassen immer einen sogenannten Fussabdruck, in vielfältiger Form, nicht nur aufs Klima. Genauso wie es immer ein Streben nach Gewinn und Nutzen geben wird. Insofern: Nein, im Tourismus wird es immer Aspekte geben, die nicht nachhaltig sind. Aber es gibt noch viel Potential, die negativen Aspekte des Reisens zu minimieren und die positiven Effekte zu stärken.
Wie denken Sie, werden wir ihn zehn oder zwanzig Jahren reisen?
Ich hoffe: sensibler, rücksichtsvoller, und in unseren Breitengraden vielleicht auch weniger. Man muss bedenken, dass wir in den letzten 50 Jahren praktisch ohne Einschränkungen gereist sind – im Gegensatz zu einem grossen Teil der Weltbevölkerung. Das soll und muss sich ändern. Denn die Gesellschaft vieler anderer Länder hat erst jüngst oder in Zukunft die Möglichkeit, auch zu Reisen. Wohl mit dem gleichen Recht, wie wir dies taten.