«Ich will alles Volk auf die Berge führen, damit sie alle die Herrlichkeit unseres erhabenen Landes geniessen können!» Als Niklaus Riggenbach vor etwas mehr als 150 Jahren seine Vision von einer Bergbahn auf die Rigi vorstellte, schien er schon eine Vorahnung davon gehabt zu haben, was er mit seinem Vorhaben einmal auslösen würde. 1871 dampfte die Rigi-Bahn das erste Mal von Vitznau den Berg hinauf. Eine Weltsensation! Schon kurz darauf liessen sich jährlich über 100’000 Gäste auf die «König der Berge» chauffieren. Im Jahr 2018 beförderten die Zahnrad- und Seilbahnen fast eine Million Gäste auf den Rigi-Gipfel – zu Spitzenzeiten bis zu 10’000 pro Tag.
Prädestiniert für den schnellen Tourismus
Die Geschichte der Rigi zeigt exemplarisch: Massentourismus ist in der Schweiz kein neues Phänomen. «Berge wie die Rigi sind aufgrund der Lage und der Erreichbarkeit prädestiniert für den schnellen Massentourismus», weiss Florian Eggli, Experte für nachhaltige touristische Entwicklung an der Hochschule Luzern. Kurz rauf, die Aussicht geniessen, etwas essen und trinken, ein Souvenir kaufen und wieder runter: Für die Tourismusorganisationen ist das ein gutes Geschäft.
So auch auf der Rigi. 2016 hat ein Zusammenschluss der grössten Dienstleister am Berg angekündigt, bis zu 60 Millionen Franken in neue Attraktionen und neues Rollmaterial zu investieren. Im Plan aufgeführt waren Ideen wie eine Besucherplattform auf dem Sendeturm oder ein «Schwizer Bergdörfli» auf Rigi-Staffel. Als Reaktion auf die Erweiterungspläne hat ein lokales Komitee eine Petition eingereicht, die den Personenverkehr auf den Berg einschränken und den weiteren Ausbau des Tourismusangebots in «ein Disneyland» verhindern will. Die Initiantinnen und Initianten befürchten, dass die Rigi, welche auch bei der einheimischen Bevölkerung ein beliebtes Erholungsgebiet ist, mit knapp einer Million Reisenden pro Jahr ihren einmaligen Charakter verliere. Sie fordern die Tourismusdienstleister auf, «den auf Masse ausgerichteten Gästemix mit einem Angebotsmarketing zu korrigieren, das sich einem naturnahen Tourismus verpflichtet», wie sie auf ihrer Website schreiben.
«Wir wollen die Rigi mit all ihren Geschichten und Facetten auch für die nachfolgenden Generationen als attraktiven Freizeit- und Erholungsraum erhalten.»
Jeanine Züst, RigiPlus AG
Charta für eine schonende und nachhaltige Entwicklung
Die Botschaft ist angekommen. Die beteiligten Organisationen haben den Masterplan zum Ausbau der Rigi beiseitegelegt und stattdessen die «Charta Rigi 2030» erarbeitet, die im November 2018 fertiggestellt wurde und sich jetzt in der Umsetzung befindet. An der Erarbeitung der Charta und des Entwicklungsplans waren die RigiPlus AG, die Rigibahnen, Vertreterinnen und Vertreter von Natur- und Landschaftsschutzverbänden, Anwohnervereinigungen, touristischen Unternehmen und Dienstleistern sowie den anliegenden Gemeinden und Korporationen beteiligt.
Experten der Hochschule Luzern haben bis 2018 in einem ersten Schritt die Konzeption wissenschaftlich begleitet. Seit Juni 2020 erfolgt die Umsetzung mit den konkreten Teilprojekten, dem Entwicklungsplan und dem Monitoring im Rahmen eines Projekts der «Neuen Regionalpolitik», mit welcher der Bund und die Kantone die regionalwirtschaftliche Entwicklung von Berggebieten fördert.
Damit wollen die Beteiligten eine nachhaltige Entwicklung des beliebten Ausflugziels ermöglichen. «Unser Ziel ist es, die Rigi mit all ihren Geschichten und Facetten auch für die nachfolgenden Generationen als attraktiven Freizeit- und Erholungsraum zu erhalten und authentisch erlebbar zu machen», sagt Jeanine Züst von der RigiPlus AG, die für die Entwicklung und Vermarktung der Region Rigi zuständig ist.
Konkret beschäftigt sich die Arbeitsgruppe unter anderem mit dem Schutz der Landschaft und der Lebensräume, der Entwicklung von ressourcenschonenden und nachhaltigen Angeboten und dem Erhalt des kulturellen Erbes auf der Rigi. Erste Teilprojekte wurden bereits angestossen, unter anderem arbeitet die Arbeitsgruppe gegenwärtig an einem neuen Konzept zur Besucherlenkung auf Rigi Kulm, das die Infrastruktur auf dem Gipfel entlasten soll.
Fokus auf neue Gästegruppen
Die Charta ziele aber nicht darauf ab, lediglich die Reiseströme auf die Rigi zu beschränken. «Es ist wichtig, den Tourismus nicht per se zu diskreditieren», betont Florian Eggli. Er sagt: «Es gibt auch wünschenswerten Tourismus, von dem die ganze Region profitieren kann.» Eggli spricht von Resonanz-Tourismus: «Viele Reisende wollen sich mit der einheimischen Bevölkerung auseinandersetzen und echte Erfahrungen mit der lokalen Kultur und Kulinarik machen.» Solche Gäste würden die Natur und die Umgebung wertschätzen und so in den Reisedestinationen ein positiveres Gefühl vermitteln. Hinzu komme, dass diese Form des Tourismus eine breitere Wertschöpfung für die Region generiere, da die Touristinnen und Touristen eher bereit seien, Geld für regionale Produkte und Dienstleistungen zu zahlen. Die Rigi-Charta setzt deshalb nicht primär auf Kapazitätsbeschränkungen, sondern versucht zwischen den Ansprüchen der verschiedenen Gästesegmente zu vermitteln.
«Asiatische Reisegruppen gehen auch auf den Berg, wenn es regnet. Darauf können viele Destinationen nicht verzichten.»
Florian Eggli, Tourismusexperte an der Hochschule Luzern
«Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los»
Sind auf der Rigi also in Zukunft kaum mehr asiatische Reisegruppen anzutreffen? «So einfach ist es nicht», sagt Eggli dazu. Eine Neupositionierung funktioniere nicht von heute auf morgen. Zudem gebe es viele Akteure, die sich nach der Corona-Pandemie eine schnelle Rückkehr zur Vor-Krisen-Zeit wünschten. Der Tourismus in der Schweiz ist teilweise stark auf den Massentourismus aus dem asiatischen Raum ausgerichtet. «Diese Touristen funktionieren komplett anders als beispielsweise Individualtouristen aus Europa», erklärt der Tourismusexperte. So würden asiatische Reisegruppen auch auf den Berg gehen, wenn das Wetter schlecht sei. «Darauf können viele Destinationen nicht verzichten.» Man dürfe dabei auch nicht vergessen, dass die Schweizer Tourismusorganisationen lange Zeit die Märkte bearbeitet haben, damit Reisende aus der ganzen Welt ins Land kommen. «Jetzt zu verlangen, dass gewisse Gästegruppen von heute auf morgen nicht mehr in die Schweiz reisen, wäre verfehlt», so Eggli.
Coronakrise als Weckruf
Touristenströme zu lenken, ist nicht einfach. Laut Eggli ist es deshalb wichtig, Räume und Angebote für verschiedene Gästekategorien und deren Bedürfnisse zu schaffen. So könne es auf der Rigi beispielsweise direkt neben der Bergstation ein Restaurant geben für Reisegruppen, die nur wenig Zeit auf dem Berg verbringen. Etwas weiter entfernt gäbe es dann Angebote für Besucherinnen und Besucher, die eher die Ruhe suchten und die Natur geniessen wollten. Florian Eggli ist überzeugt, dass jetzt ein guter Zeitpunkt sei, um die Ziele der Charta Rigi umzusetzen. «Die Coronakrise ist auch ein Weckruf», meint er. Die Menschen haben sich durch die Einschränkungen der letzten Monate wieder vermehrt auf eine intakte Natur besonnen.
Während der Pandemie haben Destinationen profitiert, die sich schon vorher nachhaltig ausgerichtet und nicht ausschliesslich auf den Massentourismus gesetzt haben. Dieser Trend dürfte laut Eggli längerfristig anhalten. Gleichzeitig hätten viele Regionen aber auch gemerkt, wie abhängig sie vom Tourismus sind. Es sei deshalb eine gegenseitige Wertschätzung gefragt: einerseits von den Touristinnen und Touristen gegenüber der Bevölkerung und der Umgebung, andererseits aber auch von den Einheimischen gegenüber den Gästen. Florian Eggli: «Das Ziel muss sein, den Tourismus so zu gestalten, dass genug Raum für alle übrig bleibt.»
.