Wenn man Patricia Jäggi fragt, welche Vogelart sie ihres Gesanges wegen auf eine einsame Insel mitnehmen würde, dann sagt sie: das Alpenschneehuhn. Und damit fällt sie im Vergleich zu den Befragten des HSLU-Forschungsprojekts Seeking Birdscapes gleich aus dem Rahmen. Aber dazu später mehr. Jäggi wuchs in den Bündner Bergen auf und hat Erfahrung mit dem seltenen Tier: «Man bekommt es eigentlich kaum zu Gesicht, aber es gefällt mir wegen seiner knarrenden und damit recht unkonventionellen Stimme.» Sein lustiges Geräusch, so die Forscherin, erinnere sie gar an den Hochzeitsmarsch.
Seit 2019 geht die Klangforscherin und Kulturanthropologin mit ihrem Team der Frage nach, wie Menschen die Geräusche der Vögel wahrnehmen und wie Mensch und Vogel klanglich interagieren. «Vögel sind überall um uns herum. Aber ob und wie wir sie wahrnehmen, ist sehr unterschiedlich und unterliegt kulturellen, technologischen und ökologischen Aspekten», sagt Jäggi. Die einen hören gar nicht mehr hin, wenn ein Vogel vor dem Fenster zwitschert, andere nehmen ihn als störenden Lärm wahr, aber die meisten erfreuen sich am lieblichen Gesang, besonders im Frühling. Auch in der Musikgeschichte und -gegenwart spielen Vogelstimmen eine grosse Rolle. So haben sich Komponistinnen und Komponisten vom Gesang der Vögel anregen lassen, etwa Olivier Messiaen, der selbst Ornithologe war oder zeitgenössische Komponistinnen wie Carola Bauckholt aus Deutschland oder Emily Doolittle aus Grossbritannien.
Feldforschung in Island mit «dreidimensionalen Ohren»
Für das SNF-Forschungsprojekt reiste Jäggi im Sommer 2021 unter anderem nach Island. «Die Insel ist deswegen spannend, weil sie eine grosse Vielfalt an Wasser-, See- und Küstenvögeln beheimatet, von denen einige in riesigen Kolonien brüten. Und auch wenn es das am dünnsten besiedelte Land Europas ist, so wird dennoch die Präsenz des Menschen immer wieder in den Aufnahmen hörbar», so Jäggi. Sie sammelte 34 Stunden an Tonaufnahmen von verschiedenen Orten entlang der Küste sowie an einem wichtigen Brutgebiet für Enten, dem Mývatn-See. «Die Aufnahmen habe ich grösstenteils mit einem ambisonischen Mikrophon gemacht – eine Technologie, die den Raum dreidimensional wiedergibt», erklärt Jäggi. Das Material diente schliesslich für eine Klanginstallation, die im Rahmen des Projektes von Künstlerin Martina Lussi entwickelt wurde. «Subpolar Birdscapes in Transformation» umfasst nicht nur die Geräusche der Vögel, das Rauschen und Rascheln von Wind, Meer sowie Gräsern, sondern bettet auch menschliche Stimmen, Jackengeräusche, ein Auto oder ein Konzert aus der Ferne ein. «Sie skizziert damit sowohl die Laute der Vögel als auch die Klänge ihrer Lebensräume und der Menschen», so Lussi.
Überraschung bei der Wahl der beliebtesten Sängerin
Was aber sind nun die beliebtesten Vogelstimmen? Diese Frage stellte das Forschungsteam rund 30 Personen mit besonderer Affinität zu Vögeln – etwa Ornithologen oder Klangkünstlerinnen. «Man könnte meinen, dass die meisten von ihnen die Nachtigall nennen würden. Zum einen, weil sie eine besondere kulturhistorische Bedeutung als Klage-, Liebes- und Todesvogel hat und zum anderen, weil ihr ein besonders melodiöser und als unübertrefflich musikalisch empfundenen Gesang zugesprochen wird», sagt Jäggi. Von den befragten Personen, die in Mittel- und Westeuropa wohnhaft sind, erwähnten jedoch «nur» wenige die Nachtigall, die schon Gegenstand diverser Forschungen war. Erstaunt hat Jäggi aber vor allem, dass die Befragten überproportional viele Singvögel genannt haben, die in menschlichen Siedlungen leben: etwa die Amsel, die Mönchsgrasmücke, den Zaunkönig oder den Pirol. «Offenbar tendieren wir dazu, besonders diejenigen Vögel zu mögen, die in unserer unmittelbaren Umgebung leben, etwa im eigenen Garten, im Baum vor dem Haus oder in der städtischen Grünanlage.»
Vom Habitat zum Habituellen
Beim Blick in die Vergangenheit stellt sich laut Jäggi die Frage, ob die grosse Beliebtheit der Nachtigall in den Dichtungen des 19. Jahrhunderts einfach auch daran gelegen haben könnte, dass die Gebüsche und Wälder, in denen sie lebt, damals noch einen Grossteil der Wohn- und Agrikultur ausmachten, die mit der Industrialisierung verloren gingen? Im Gegensatz zur Nachtigall mit ihrem massiven Lebensraumverlust hat die Amsel ihre Habitatspräferenzen erweitert und sich von einer damals scheuen Waldbewohnerin zu einer Kosmopolitin gemausert, die nun praktisch überall zu Hause ist. Jäggi: «Vom Habitat, dem Wohnen, zum Habituellen, der Gewohnheit, ist es ein kurzer Weg. Hör- und Empfindungskultur, so könnte man im Fall des Gesangs von Nachtigall und Amsel behaupten, ist vielleicht doch vielmehr gelebte Gewohnheit als uns Forschenden manchmal lieb ist.»
Ausstellung und Konferenz zum Reinhören
Nichtsdestotrotz wurden von den Befragten auch einige aussergewöhnliche und seltene Vögel genannt, darunter der Bienenfresser, die Rohrdommel und der Sepiasturmtaucher. Solche für uns Menschen eher ungewohnten Vogelstimmen lassen sich an einer Ausstellung im Natur-Museum Luzern und an einer Konferenz für Fachpersonen und interessierte Laien an der Hochschule Luzern erleben. Nebst der Klanginstallation von Martina Lussi kommen die Besucherinnen und Besucher in den Genuss, in die klingende Welt der Vögel einzutauchen: So stehen nebst Jäggis Aufnahmen aus Island, auch Konzerte und Vorträge auf dem Programm (siehe Kasten).