Fabio Knöfler, beim Begriff «Pflege» habe ich folgendes Bild im Kopf: Eine Frau im mittleren Alter wäscht in einem Altersheim eine betagte Frau; später gibt sie dieser dann das Essen ein. Ist das ein realistisches Bild des Pflegeberufs?
Fabio Knöfler: Die Unterstützung bei Alltagstätigkeiten gehört zwar zur Pflege dazu, dennoch ist es ein sehr unvollständiges Bild. Pflege findet nicht nur im Altersheim statt und wird zudem nicht nur von Frauen ausgeübt. Pflegefachkräfte arbeiten in Spitälern, Reha-Kliniken, Pflegeheimen oder in der Spitex. Sie übernehmen vielfältige und anspruchsvolle Aufgaben, von der Beurteilung des Gesundheitszustandes über den Einsatz medizinischer Geräte bis hin zur Notfallversorgung oder der Koordination mit anderen Dienstleistenden des Gesundheits- und Sozialwesens.
Dann gibt es einen Gap zwischen dem Image und dem tatsächlichen Berufsbild?
Spannend ist, dass Pflegende ihren Beruf attraktiver bewerten als die allgemeine Öffentlichkeit. Dies hat eine kürzlich durchgeführte Studie in der Zentralschweiz gezeigt. Deutlich wurde dabei auch, dass die Vielfalt der Aufgaben, Verantwortlichkeiten und die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung innerhalb der Pflege vielen Menschen kaum bekannt sind. Es besteht somit noch grosses Potenzial, die Öffentlichkeit über das aktuelle Berufsbild und die tatsächlichen Verantwortlichkeiten und Karrieremöglichkeiten aufzuklären.
Joana Sao Pedro (*2000)
Dipl. Pflegefachfrau HFCareanesth Temporär Büro, Luzern
Welche Kompetenzen sind nötig, um in diesem Beruf zu arbeiten?
Pflege ist ein komplexer Beruf und erfordert das Interesse an Naturwissenschaft, Anatomie, Pathophysiologie und Pharmakologie. Weiter arbeiten Pflegefachpersonen interprofessionell, kommunizieren sowohl mit Fachpersonen als auch mit Patienten und Patientinnen sowie deren Angehörigen. Professionelle Pflegende müssen mit Situationen umgehen können, die auch sozial anspruchsvoll sind, beispielsweise weil Sucht- oder Gewaltproblematiken bei den Patienten vorliegen. Wichtig ist, dass wir die Pflegenden in ihrer Profession stärken und befähigen. Wer in die Pflege investiert, investiert in die Zukunft unseres Gesundheitssystems und damit in das Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung. Pflege ist nicht nur «nice to have».
Die sogenannte Pflegeinitiative wurde 2021 mit 61 % Ja-Stimmen angenommen und ist seit diesem Juli in Kraft. Was ändert sich damit?
In einer ersten Etappe liegt der Schwerpunkt auf einer Ausbildungsoffensive in den Kantonen, denn der Fachkräftemangel ist ein grosses Thema und führt zu einer erhöhten Arbeitsbelastung. Manchmal müssen auch Betten geschlossen werden, weil nicht genügend Personal zur Verfügung steht. Mit der demografischen Entwicklung wird der Bedarf an Pflege jedoch weiter zunehmen. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) prognostiziert für die Region Zentralschweiz bis 2029 einen Bedarf von zusätzlich über 3’500 Pflegefachpersonen auf Tertiärstufe, also Höhere Fachschulen und Fachhochschulen.
In einer zweiten Etappe stehen die Arbeitsbedingungen im Fokus. Wobei geht es da?
Hierbei sind auch die Betriebe gefordert, etwa indem sie flexible Arbeitsmodelle bieten, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Entscheidend für die Attraktivität einer Branche ist schliesslich auch, dass die Fachkräfte Perspektiven zur beruflichen Weiterentwicklung bekommen.
Kristina Budimir (*1998)
Dipl. Pflegefachfrau HFAlters- und Pflegeheim im Bergli, Luzern
Wie hat sich der Pflegeberuf in den letzten 10 bis 15 Jahren verändert?
Sehr stark. Dies hat einerseits mit dem medizinischen Fortschritt zu tun und den damit verbundenen neuen Therapieformen. Andererseits wirkt die zunehmende Alterung der Bevölkerung als ein grosser Treiber für Veränderung. Ältere Menschen möchten heute nicht zwingend ins Altersheim ziehen und bevorzugen alternative, sogenannte intermediäre Wohnformen, wie betreute Wohngemeinschaften. Das stellt neue Anforderungen an die Pflege und beeinflusst, wie wir unsere Versorgungsmodelle gestalten müssen.
Wie sieht es mit der Digitalisierung in der Pflege aus?
Telemedizin und die Fernüberwachung von medizinischen Geräten wie Herzmonitoren sind Beispiele dafür, wie digitale Lösungen die Versorgung verbessern könnten. Auch Selbstmanagement-Tools für Patienten wie Schmerztagebücher oder Apps zur Gesundheitsförderung bieten grosses Potenzial. Dennoch bleibt viel zu tun, um diese Technologien im Alltag der Pflege zu integrieren. Ein weiteres Thema ist Künstliche Intelligenz, die in der Diagnostik und bei der Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten eine Rolle spielen wird.
Marina Josipovic (*2001)
Dipl. Pflegefachfrau HFAbteilung Nephrologie, Gastroenterologie, Hämatologie und Allgemeine Innere Medizin
Luzerner Kantonsspital
Sie erwähnten neue Formen der Zusammenarbeit sowie neuen Rollen der Pflege. Können Sie das genauer erläutern?
Durch den Fachkräftemangel sind innovative und interprofessionelle Versorgungsmodelle entstanden, in denen die Pflege zunehmend neue Aufgaben und spezialisierte Rollen übernimmt. Ein gutes Beispiel sind die Advanced Practice Nurses (APN). Sie sind unter anderem in Arztpraxen tätig und übernehmen dort teilweise die Behandlung etwa von chronisch kranken Patienten – jedoch immer mit einem starken Pflegefokus. Das heisst, Menschen mit Diabetes werden von APN im Selbstmanagement geschult und werden durch sie langfristig betreut. So können diese auch länger und mit einer hohen Lebensqualität zuhause wohnen bleiben. Ein anderes Beispiel ist die Verschiebung von stationär zu ambulant: In der Spitex arbeiten heute auch Leute, die in der spezialisierten «palliative care» tätig sind, es also mit stark Pflegebedürftigen an deren Lebensende zu tun haben. Oder in der Langzeitpflege werden teilweise Ferienbetten vergeben oder jemand kommt für eine Reha ins Altersheim, geht dann aber wieder. Die Fachpersonen müssen damit umgehen können und es braucht Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten, die das Personal schulen und coachen.
Wie steht es denn um die Weiterbildung und somit um die beruflichen Perspektiven?
Neben den Nachdiplomstudiengängen, etwa in Anästhesie-, Intensiv- und Notfallpflege, gibt es heute zusätzliche Spezialisierungs- und Weiterbildungsangebote wie beispielsweise CAS- oder MAS-Studiengänge in Onkologischer Pflege. Aber auch im Bereich der Management- und Leitungspositionen gibt es vielfältige Perspektiven. Die Möglichkeit, Pflege auf Hochschulstufe zu studieren, eröffnet den Pflegefachpersonen zudem die Option, im wissenschaftlichen Bereich tätig zu sein, zum Beispiel in der Pflegeforschung. Ein Bachelor- oder Masterabschluss bietet den Absolventen und Absolventinnen verschiedene Laufbahnen innerhalb des Gesundheitswesens, sei es in der Fachexpertise, in der Bildung, im Management oder in der Forschung.
Wieso braucht es eine Pflegeausbildung auf Stufe Fachhochschule?
Die Studierenden lernen, wie sie aktuelles Wissen und Studienergebnisse in ihren Praxisalltag und in ihr Team transferieren. Dadurch leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung einer evidenzbasierten und wirksamen Pflegepraxis. Sie erwerben die Fähigkeit, später im Job die fachliche Führung des Pflegeteams zu übernehmen und tragen zur Sicherung der Pflegequalität bei. Für die Absolventinnen und Absolventen des Bachelors in Pflege gehen viele neue Türen auf.
Severin Buob (*1989)
Dipl. Pflegefachmann HFTeamleiter Nephrologie, Gastroenterologie, Hämatologie und Allgemeine Innere Medizin
Luzerner Kantonsspital
In Bern oder Zürich gibt es bereits ein Bachelor-Masterprogramm für die Pflege. Was bedeutet es für die Zentralschweiz, eine solche Ausbildung nun selbst anbieten zu können?
Die Hochschule Luzern hilft mit, den grossen Bedarf an hochqualifizierten Pflegefachkräften in der Region zu decken. Es eröffnen sich zudem Möglichkeiten für innovative Versorgungsmodelle, etwa durch den Einsatz von Advanced Practice Nurses, die dazu beitragen, die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung zu sichern. Das neue Angebot verhindert zudem die Talentabwanderung in andere Regionen. Die Studierenden können für das Studium und die anschliessende berufliche Tätigkeit in der Zentralschweiz bleiben und hier der Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt wird durch die Praxismodule und Praktika der Studierenden die Wissenszirkulation zwischen Theorie und Praxis gefördert.