Die Corona-Pandemie im Jahr 2020 veränderte Jodok Vuilles Karriere nachhaltig: Während des Lockdowns konnte er seiner Arbeit als Musik- und Sportlehrer zeitweise nicht nachgehen, Konzerte fanden gar keine mehr statt. Doch auf der faulen Haut liegen ist nicht seine Sache. Er nützte die Zeit für einen Ausflug auf den Alpstein – mit Cello und Drohne. Dort positionierte er sich vor einem schwindelerregenden Abgrund, hinter sich Säntis und Sonnenuntergang, und spielte. Die Drohne, mit Infrarot auf ihn fixiert, filmte Cellospieler, Sonnenuntergang und Säntis. Dieses Video, das er allein auf dem Alpstein gedreht und anschliessend selbst bearbeitet hat, leitete eine unerwartete Karrierewendung ein: Heute, fünf Jahre später, hat der Emmentaler Biobauernsohn eine Million Follower auf Youtube, fünf Millionen auf Tiktok, weitere fünfeinhalb Millionen auf Instagram. Er ist für den «World Influencer Award» nominiert, der im Juli in Cannes verliehen wird. Eine Welttournee ist in Planung. Und – eine unerfreuliche Nebenwirkung – es gibt Tausende Fake-Accounts, mit deren Hilfe Betrügerinnen und Betrüger an das Geld seiner Fans kommen wollen.
Allein in der Natur oder mitten auf der Strasse
So gerne er mit Kindern arbeitet, seine Stelle als Lehrer hat Jodok Vuille im Februar aufgegeben. Sie war nicht mehr vereinbar mit den Ansprüchen, die sein neues Leben an ihn stellt. Seine internationalen Engagements organisieren nun zwar zwei Manager; in der Schweiz kümmert er sich aber nach wie vor um alles selbst, auch seine Social-Media-Posts bereitet er allein vor. Die Regelmässigkeit, mit der sie erscheinen, geben allerdings mittlerweile seine Follower vor: Postet er zu lange kein neues Video, so läuft sein Postfach über mit besorgten Nachfragen. Zudem sind seine Videos heute oft komplizierter; er spielt nicht mehr ausschliesslich allein in der Natur, sondern dreht auch in Städten, wo er mit Menschen interagiert – inszeniert zum grössten Teil, aber immer mit realem Publikum. Hier ist mehr Vorbereitung nötig: Zwei bis drei Personen nehmen auf, was geschieht, wenn Jodok Vuille sich auf die Strasse stellt und zu spielen beginnt, wenn jemand ihn anspricht, ob er nicht einen bestimmten Song spielen könne und er – oh Wunder – genau den auf Lager hat.
Diese Strassenvideos sind nicht unbedingt seine liebsten, aber er ist mittlerweile zum Unternehmer geworden und weiss: Für den Erfolg braucht es einen Mittelweg zwischen dem, was der Algorithmus pusht und dem, was man selbst mit Begeisterung macht. Der Algorithmus zieht im Moment Strassenvideos vor: Jodok Vuilles erfolgreichster Post hatte 130 Millionen Views. Dagegen lässt sich schwer argumentieren, insbesondere, wenn man auf Kooperationen, Konzert- und Werbeanfragen angewiesen ist. «Im Moment ist das halt der Hype. Aber der flacht schon wieder ab; man muss sich sowieso ständig neu erfinden», kommentiert er diese Entwicklung.
Lernen im Neuland
Der Cellist hat Glück: Authentisch zu bleiben, fällt ihm leicht. So spielt er die Musik, die er spielen will. «Ich habe einen einfachen Musikgeschmack», sagt er von sich. Einen also, der auf Social Media mehrheitsfähig ist. «‹Can’t help falling in Love› oder ‹Bella Ciao› ziehen immer», weiss er. Als die Auswertungen aufzeigten, dass er überraschenderweise von allen Städten der Welt in Teheran am meisten Erfolg hat, nahm er auch persische Songs in sein Repertoire auf.
Was es für diesen neuen Karriereweg ausser Cellospielen brauchte, lernte der Emmentaler Schritt für Schritt. Zunächst Filmen und Videos bearbeiten: Der begeisterte Filmer schaute Hunderte, wenn nicht Tausende Tutorials und schaffte es, dass schon sein Ein-Mann-Alpstein-Video so aussah, als wäre es mit grosser Crew aufwändig produziert. Auch auf Social Media ist er Autodidakt. Als Schülerinnen und Schüler ihm vorschlugen, auf Hochformat umzusteigen, erkannte er nach einem Moment der Irritation ihre überlegene Kompetenz an. Anderes musste er durch Erfahrung lernen. So zum Beispiel, dass man Partnerschaften auf Social Media besser mit Umsicht auswählt. Eine Kooperation mit dem FC Barcelona beispielsweise führte über Nacht zum Verlust von 15´000 Followern, weil die Fans von Real Madrid ihm darob den Rücken kehrten.



Zurück zu den Anfängen
Bei allem Erfolg, den er dort hat, sind die sozialen Medien für Jodok Vuille nur Mittel zum Zweck. Denn erstens hält er nüchtern fest: «Social Media ist eine Blase, ein Hype, der schnell wieder vorbei sein kann.» Und zweitens ist sein Ziel, mit dem er die Ausbildung zum Cellisten überhaupt begonnen hat, noch das gleiche: die Bühne, der Live-Auftritt vor Publikum ohne Schnitt und ohne die Möglichkeit für ein zweites Take, aber mit Lampenfieber und direkter Interaktion mit einem grossen Publikum. Dafür hat er mit Show-Profis eine aufwändige, durchgetaktete Show entwickelt, deren Schweizer Premiere bereits stattgefunden hat. Jetzt geht es hinaus auf die Weltbühnen.