Hobbys und Gewohnheiten leben weiter

Wer in ein Alters- und Pflegeheim eintritt, gibt seine Gewohnheiten und Vorlieben nicht an der Eingangstür ab. HSLU-Forschende zeigen, dass im Heimalltag mehr Individualisierung und Persönliches möglich ist – ohne überbordende Zusatzkosten. Gefragt sind genaues Hinschauen und neue Berufsbilder.

Eine Pflegende liesst einer Bewohnerin ein Buch vor. Symbolbild, gestellte Szene.

Eine typische Szene im Alters- und Pflegeheim: Frau B. wünscht sich Filterkaffee mit Kondensmilch. Kein moderner Kapselkaffee, sondern das Getränk, welches sie ihr Leben lang begleitet hat. Sie möchte den Tag nicht nach Zeitplan beginnen, sondern noch ein wenig in ihren Heftli blättern, Radio hören, ihren eigenen Rhythmus spüren. Die Pflege hingegen bringt routiniert den vorbereiteten Milchkaffee und bittet zum Frühstückstisch – denn so ist es im Ablauf vorgesehen. Es sind diese kleinen Momente, in denen sich entscheidet, ob und wie persönlich die Alltagsgestaltung abläuft.

Diese Videosequenz ist eine von vielen, die Karin Stadelmann und Rita Kessler vom Departement für Soziale Arbeit der HSLU sorgfältig analysiert haben. Unzählige Stunden Material mit Alltags- und Betreuungssituationen und in vier verschiedenen stationären Altersinstitutionen in der Schweiz sind so zusammengekommen.

Betreuungsqualität erhöhen

Ziel ist es herauszufinden, wie sich der Spagat beziehungsweise die Spannungen zwischen vorgegebenen Abläufen und einer möglichst individuellen Alltags-, Lebens- und Freizeitgestaltung der älteren Menschen lösen lässt. «Wer sich zum Eintritt in ein Heim entscheidet, gibt nicht automatisch seine Gewohnheiten und Fähigkeiten am Eingang ab. Und doch befürchten viele ältere Menschen, genau dies tun zu müssen», sagt Stadelmann.

Als Sozialwissenschaftlerin betrachtet sie das Alter als eine gestaltbare Lebensphase voller Möglichkeiten, die mit dem Erlernen und Wiederentdecken von Fähigkeiten und Fertigkeiten einhergeht. «Eine qualitativ hochwertige, persönliche und zugewandte Betreuung im Alter ist der zentrale Schlüssel, damit sich ältere und hochbetagte Menschen wohlfühlen», hält Stadelmann fest.

Viele Betreuungseinrichtungen nehmen dieses Anliegen ernst und erfassen die Bedürfnisse der neuen Bewohnerinnen und Bewohner beim Eintritt. Nur: Oft finden diese Informationen über bisherige Routinen, Hobbys, Vorlieben und heimlichen Passionen später im Alltag jedoch kaum Beachtung. Eine individuelle, zugewandte und persönliche Alltagsgestaltung findet nur in Ansätzen statt.

Weniger Planung, mehr freie Zeit

«Was wir stattdessen vielerorts sehen, ist ein durchgetaktetes Programm: gemeinsam singen, Apfel rüsten, Yoga, Jassen. Oft begegnen wir in Alterseinrichtungen dem Missverständnis: Je strukturierter der Tag ist, desto besser ist die Gestaltung des Alltags», so Stadelmann. Stattdessen plädiert sie für freie Zeiten und Räume, in denen Ungeplantes stattfinden kann – aber nicht muss.

Eine zeitliche Rahmung sei sinnvoll, innerhalb dieser sollten jedoch individuelle Bedürfnisse und persönliche Vorlieben im Mittelpunkt stehen. Auch einfach einmal Zeit für einen kurzen Schwatz sei viel wert. «Es braucht definitiv keine Animation von frühmorgens bis spätabends. Schliesslich sind die alten Menschen nicht in einem Robinson Club zu Gast», fügt Stadelmann an.

Dem kann Nadja Rohrer nur beipflichten. Als CEO der Betagtenzentren Emmen AG ist sie für zwei Heime mit über 300 Bewohnenden und 460 Mitarbeitenden im luzernischen Emmen zuständig. «Wir müssen individueller auf die Bedürfnisse eingehen können. Das heisst auch: Wir müssen interdisziplinärer werden.

Ergänzend braucht es Expertinnen und Experten, die gemeinsam mit den Bewohnenden Interaktionen schaffen.» Das ist auch für Stadelmann zentral: «Das kann nicht allein von der Pflege geleistet werden, die ohnehin schon stark belastet ist». Vielmehr sei dies ein perfekter Job für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. Die Studie strebt deshalb an, ihre Rollen stärker in der Altersarbeit zu verankern, Seite an Seite mit den Pflegefachleuten.

Berufsbilder und Lehrangebot verändern

Während niederschwellige Anpassungen, etwa mehr frei gestaltbare Zeit, rasch und ohne grosse Kostenfolgen umgesetzt werden können, sind andere Vorhaben mittelfristiger Natur. Stadelmann möchte mit ihrem Team das Berufsbild «Alter» innerhalb der Sozialpädagogik weiterentwickeln und dabei auf die Alltagsgestaltung und psychosoziale Begleitung älterer Menschen fokussieren. Ziel ist es, die dafür nötigen Kompetenzen klar zu definieren und systematisch in der Ausbildung zu verankern. So können Hochschulen künftig spezialisierte Fachkräfte ausbilden, die eine wichtige Rolle in der Altersarbeit übernehmen und die Pflege entlasten.

Für eine professionelle Alltagsbetreuung durch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen benötigt es aber auch Anpassungen auf politischer Ebene. Aktuell darf ein solcher Betreuungsaufwand, im Gegensatz zu KVG-Pflegeleistungen, nämlich nicht der Krankenkasse verrechnet werden. Für innovative Institutionen wie die Betagtenzentren Emmen AG ist das eine Herausforderung.

Neue Generation mit neuen Ansprüchen

Das ist auch ein Grund, warum sich diese und die drei weiteren Institutionen aktiv am Forschungsprojekt der HSLU beteiligen. «Im nationalen Parlament laufen derzeit Diskussionen zu entsprechenden Anpassungen», erklärt Stadelmann. Die Studie liefert wissenschaftliche Fakten, die in diese Entscheidungsprozesse einfliessen können.

Für Stadelmann ist es höchste Zeit: «Wir wissen um die demografische Entwicklung: Mit der Generation zieht eine neue Kundschaft in unsere Alterseinrichtungen ein. Ihr Lebensstil unterscheidet sich deutlich von dem der heutigen älteren Generation – er ist noch individueller. Darauf müssen wir vorbereitet sein.»

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