Bisher gibt es kaum systematische Sammlungen von Daten zu Gewalt und Vernachlässigung an älteren Menschen in der Schweiz. Paula Krüger, Gewaltforscherin an der Hochschule Luzern, hat im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen internationale Schätzungen zur Häufigkeit des Phänomens und vorhandene Daten in der Schweiz zusammengetragen. Nach ihren Berechnungen gibt es hierzulande pro Jahr rund 300’000 bis 500’000 Fälle, bei denen Menschen ab 60 Jahren von einer Form von Vernachlässigung oder Gewalt betroffen sind – sei es körperliche, psychische, sexuelle oder finanzielle Gewalt.
Pflegende Angehörige sind oft überfordert
Wenn von Gewalt an älteren Menschen gesprochen wird, sind in der Regel Misshandlungen innerhalb einer Vertrauensbeziehung gemeint. «Häufig findet diese konkrete Form von Gewalt im Kontext einer Pflegesituation statt», sagt Krüger. Das könne in einem Pflegeheim sein oder bei der pflegebedürftigen Person zuhause. Wird einer alten Frau auf dem Gehsteig die Handtasche entrissen, fällt das also nicht in diese Kategorie.
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Begriffsdefinition: Was versteht man unter «Gewalt im Alter»?
Unter Gewalt gegen ältere Menschen bzw. Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen versteht man gemäss der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine einmalige oder wiederholte Handlung oder Unterlassung einer angemessenen Handlung innerhalb einer Vertrauensbeziehung, die einer älteren Person Verletzungen oder Leid zufügt. Das kann körperliche, psychische, sexuelle, finanzielle oder wirtschaftliche Gewalt sein, aber auch Vernachlässigung und Altersdiskriminierung.
Mit Blick auf geeignete Präventions-, Früherkennungs- und Interventionsmassnahmen stellt es eine Herausforderung dar, dass in der Praxis einerseits mit verschiedenen Definitionen von Gewalt, andererseits auch mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten gearbeitet wird. Beispielsweise spricht man im deutschsprachigen Diskurs in der Regel von Gewalt gegen ältere Menschen, während im französischsprachigen Diskurs von «maltraitance» die Rede ist, dem entsprechend auch «bientraitance» gegenübergestellt werden kann – also auch die Definition, was es denn bedeutet, jemanden gut zu behandeln. Erschwerend kommt hinzu, dass ältere Menschen selbst häufig ein anderes Verständnis davon haben, was Gewalt und Vernachlässigung ausmacht. Das macht es schwierig, geeignete Präventions- und Interventionsmassnahmen auszuarbeiten und anzuwenden.
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Als Täterinnen und Täter von Misshandlungen älterer Menschen treten oftmals Angehörige oder Fachpersonen in Erscheinung. «In den meisten Fällen steckt hinter den Handlungen keine Böswilligkeit», stellt Paula Krüger fest. In der professionellen Pflege – beispielsweise in Altersheimen – fehlt oftmals schlicht die Zeit, um auf die Bedürfnisse der betagten Menschen einzugehen. «Leider sind auch in der Schweiz die Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen nicht darauf ausgerichtet, dass sich die Mitarbeitenden individuell mit den Pflegebedürftigen auseinandersetzen können», so Krüger. Gerade betagte Menschen, die sonst kein persönliches Umfeld mehr haben, leiden enorm darunter.
Laut Krüger finden viele Fälle von Gewalt im Alter aber nicht im professionellen, sondern im familiären Umfeld statt. In der Schweiz werden ältere Menschen oft von ihren Partnerinnen oder Partnern oder von ihren erwachsenen Kindern betreut. Dabei handelt es sich in der Regel um Menschen, die nicht für diese Arbeit ausgebildet sind. Entsprechend schnell sind sie mit der Situation überfordert. «Diese Überforderung kann sich in Aggressionen äussern, die an der pflegebedürftigen Person ausgelassen werden», so Krüger. Das zeige sich beispielsweise an heftigen Beschimpfungen, grobem Anfassen oder Vernachlässigung.
Bei Paaren: Umkehr der Rollen
Die Häufung von gewaltsamen Handlungen an älteren Menschen im privaten Umfeld deckt sich mit einem bekannten Muster: Häusliche Gewalt geschieht oft dann, wenn zwischen der Täterin oder dem Täter und dem Opfer eine Abhängigkeit besteht. So ist beispielsweise die finanzielle Abhängigkeit erwachsener Kinder von ihren betagten Eltern ein Risikofaktor für Misshandlungen. In Paarbeziehungen führt die Pflegebedürftigkeit eines Partners hingegen häufig zu einer Neubestimmung der Rollen in der Beziehung. Diese Situation ist vielfach mit Enttäuschungen verbunden, da andere Pläne für die gemeinsame Zeit im Alter bestanden. Zusammen mit der Belastung durch die Pflege kann dies dazu führen, dass häusliche Gewalt im fortschreitenden Alter neu in einer Beziehung auftritt. Manchmal kommt es aber auch zu einer Umkehr der Rollen. In Beziehungen, in denen es bereits früher zu Gewalt gekommen ist, wird der ehemalige Täter – statistisch gesehen häufiger der Mann – neu zum Opfer. «Das zeigt, dass Gewalt etwas mit Macht zu tun hat. Ändern sich die Machtpositionen, kann das zu einer Rollenumkehr führen», so Krüger. Das ist eine mögliche Erklärung dafür, warum gemäss offiziellen Statistiken bei Personen unter 60 Jahren die Frauen klar häufiger Opfer von häuslicher Gewalt werden als Männer, während im höheren Alter Frauen und Männer etwa gleich stark davon betroffen sind.
Sowohl in Partnerschaften als auch in Kind-Eltern-Beziehungen gibt es weitere Aspekte, die das Risiko verstärken, dass es zu Gewalt oder Vernachlässigung gegenüber älteren Menschen kommt. Umso älter eine Person ist, desto eher wird sie Opfer von Misshandlungen. Das zeigt die Statistik. Auch der sozioökonomische Status einer betagten Person spielt eine Rolle: Menschen mit geringem Einkommen sind häufiger von Gewalt im Alter betroffen als Personen mit hohem Einkommen. Aus der Täterperspektive ist Substanzmissbrauch – also Drogen- oder Alkoholkonsum – ein häufiger Katalysator für gewaltsames Verhalten. Aber auch psychische Erkrankungen wie Depression zählen zu den bekannten Risikofaktoren für Gewalt im Alter.
Bundesrat hat das Problem erkannt
Geht es nach Paula Krüger, wäre es wichtig, das Thema «Gewalt und Vernachlässigung im Alter» mit all seinen Facetten besser zu verstehen und so ein Fundament für wirksame Präventions- und Interventionsmassnahmen zu schaffen. Das hat auch der Bundesrat erkannt. Er hat das Innendepartement beauftragt, auf der Basis der Erkenntnisse aus der HSLU-Studie gemeinsam mit den Kantonen eine Beurteilung vorzunehmen, ob es ein nationales Impulsprogramm braucht. Ausserdem will der Bundesrat eine Meldepflicht für Personen prüfen, die regelmässigen Kontakt zu pflegebedürftigen, älteren Menschen haben. Das seien erste, wichtige Schritte, um für das Thema mehr Bewusstsein zu schaffen, ist sich Paula Krüger sicher. «Es ist zu hoffen, dass weitere konkrete Massnahmen folgen und das Thema nicht wieder von der politischen Agenda verschwindet.» Dies erscheint insbesondere auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wichtig. Denn: Es ist ein Thema, das in Zukunft weiter an Brisanz zunehmen wird.
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