Kaum gefördert: Gehörlose Menschen im Arbeitsmarkt

Gehörlose und Hörbehinderte haben schlechtere Chancen, eine Stelle zu finden. Diversity-Expertin Anina Hille erklärt, wieso das so ist und warum es sich für Firmen lohnen würde, mehr auf sie zu setzen.

HSLU Studie zum Arbeitsmarkt für gehörlose und hörbehinderte Menschen

Wissenschaftlich belegt: Je vielfältiger und inklusiver die Teams im Unternehmen sind, desto höher ist auch ihre Innovationskraft.

In der Schweiz leben rund eine Million Menschen mit einer Hörbehinderung. Dazu gehören Personen mit einer leichten Beeinträchtigung des Gehörs bis hin zu jenen, die gar nichts hören. Die Arbeitslosenquote ist bei gehörlosen und hörbehinderten Menschen mit rund zehn Prozent über dreimal höher als bei der durchschnittlichen Erwerbsbevölkerung. Mit einer umfangreichen Erhebung bei Arbeitgebenden hat die Hochschule Luzern gemeinsam mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund erstmals untersucht, wie gut Hörbehinderte in Unternehmen inkludiert sind. Die Studie zeigt unter anderem: Firmen können von einer aktiven Förderung hörbehinderter Personen profitieren. Anina Hille, Studienautorin und Diversity-Expertin an der Hochschule Luzern, beantwortet die drängendsten Fragen.

Welche Chancen ergeben sich für die Unternehmen durch eine aktive Inklusion und Förderung von gehörlosen und hörbehinderten Menschen?

Je vielfältiger und inklusiver die Teams im Unternehmen sind, desto höher ist auch ihre Innovationskraft. Das ist wissenschaftlich gut belegt. Mit der aktiven Inklusion von Menschen mit einer Behinderung leistet ein Unternehmen zudem einen sozialen Beitrag. Das stärkt die Sozialkompetenz der Mitarbeitenden.

Gespräche mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern haben gezeigt: Bei gehörlosen Personen sind oft andere Fähigkeiten speziell ausgeprägt – beispielsweise beim analytischen Denken oder im visuellen Bereich. Zudem erwähnen Arbeitgebende oft, dass sie bei hörbehinderten Mitarbeitenden Eigenschaften wie Loyalität, Zuverlässigkeit, hohe Konzentrationsfähigkeit, Pflichtbewusstsein und Flexibilität besonders ausgeprägt erleben. Das sind alles Werte, die heute für Unternehmen wichtig sind.

Aber es gibt auch rein betriebswirtschaftliche Vorteile. In der Schweiz leben rund eine Million Menschen mit einer Hörbehinderung – das sind auch eine Million potenzielle Kundinnen und Kunden. Für Unternehmen ergibt sich in der Förderung von hörbehinderten Menschen eine Chance, näher an den Bedürfnissen dieses Kundensegments dran zu sein.

Wieso tun sich Unternehmen so schwer, gehörlose und hörbehinderte Menschen aktiv zu fördern?

Viele Unternehmen fürchten sich vor zusätzlichem Aufwand. Es hat sich aber herausgestellt, dass beispielsweise viel weniger bürokratische Hürden durch die IV oder andere Behörden im Weg stehen, als von vielen Firmen angenommen. Auch die Arbeitsplätze müssen nur in wenigen Fällen umgerüstet werden – und wenn, dann meistens nur mit kleinen Eingriffen. Einige Arbeitgebende sorgen sich, dass es zwischen hörenden und hörbehinderten Kolleginnen und Kollegen zu Missverständnissen kommen könnte und dass die Einarbeitung von Menschen mit einer Hörbehinderung mehr Zeit in Anspruch nehme. Unternehmen, die bereits Erfahrung mit hörbehinderten Arbeitnehmenden haben, sehen das anders und widerlegen diese Befürchtungen. Auch Personen aus dem näheren Arbeitsumfeld von Gehörlosen oder Hörbehinderten stimmen den Vorurteilen nicht zu.

Was braucht es, damit gehörlose und hörbehinderte Menschen besser gefördert werden?

Die Offenheit der Firmen ist ein ganz wichtiger Aspekt. Ein Unternehmen hat im Laufe unserer Erhebung von einem gehörlosen Stapelfahrer berichtet. Die Vorgesetzten haben ihn trotz Hörbehinderung zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Diese Offenheit hat sich ausgezahlt – er ist heute ein äusserst geschätzter Mitarbeiter und übernimmt auch die Stellvertretung für seinen Chef. Anstelle eines Audioalarms nutzt er einen Vibrationsalarm. Er selber sagt: «Da ich gehörlos bin, bin ich sehr wachsam, ich würde sogar sagen noch wachsamer als Menschen ohne Behinderung.» Es geht also darum, dass die Arbeitgebende die Stärken erkennen und offen sind, etwas auszuprobieren. Ein gehörloser Stapelfahrer war vorher kaum denkbar. Mittlerweile stellt das bei dieser Firma niemand mehr in Frage.

Es braucht also vor allem Aufklärungsarbeit. Beispielsweise sind sich viele Unternehmen nicht bewusst, dass Gebärdendolmetscher von der IV finanziert werden oder dass es auch digitale Übersetzungsangebote gibt. Solche Dienstleistungen vereinfachen den Umgang mit gehörlosen Personen für das Unternehmen extrem. Viele wissen einfach nicht, dass es sie gibt.

Welchen Beitrag kann die Forschung dazu leisten, dass Menschen mit einer Hörbehinderung bessere Chancen im Arbeitsmarkt haben?

Mit der vorliegenden Studie haben wir die Arbeitsmarktsituation von hörbehinderten und gehörlosen Menschen in der Schweiz erstmals beleuchtet. Dieses Sichtbarmachen ist wichtig. So können wir Unternehmen für das Thema sensibilisieren. Die Studie kann viele der Befürchtungen im Hinblick auf zusätzliche Kosten oder bürokratischen Aufwand mit der IV zerstreuen und konkrete Vorteile aufzeigen. Dadurch sind Unternehmen eher bereit, über die Förderung von hörbehinderten Personen nachzudenken. Gemeinsam mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund haben wir einen Leitfaden entwickelt, mit dem wir den Unternehmen einfache, praxisnahe Informationen und Tipps geben, wie sie gehörlose und hörbehinderte Personen gezielt fördern können.

Studie zur Arbeitsmarktsituation von gehörlosen und hörbehinderten Personen in der Schweiz

Die Situation von Hörbehinderten und Gehörlosen im Schweizer Arbeitsmarkt war lange kaum erforscht. Die Hochschule Luzern hat deshalb in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund eine quantitative Erhebung bei Arbeitgebenden durchgeführt. Das Forschungsteam hat zudem einen Leitfaden entwickelt, der den Unternehmen helfen soll, gehörlose und hörbehinderte Personen gezielt fördern zu können.

Weitere Informationen zur Studie und den Leitfaden zum Download gibt es HIER.

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