Stefan Jörissen, wie geht es Ihnen im Homeoffice?
Ich bin in einer komfortablen Situation und habe zu Hause ein voll eingerichtetes Büro. Bei schönem Wetter nutze ich auch den Garten. Ich weiss aber von Hochschulkolleginnen und -kollegen mit familiären Aufgaben oder von Studierenden mit weniger Platz, dass Homeoffice für sie eine grosse Herausforderung ist. Studierende, die in einer WG oder bei den Eltern wohnen, müssen teilweise planen, wer wann den Küchentisch zum Arbeiten nutzen kann.
Welche Rückmeldungen haben Sie von Studierenden bekommen – was hat online funktioniert, was nicht?
Im Wesentlichen gibt es zwei Rückmeldungen: Der Unterricht funktioniert erstaunlich gut, aber er ist nicht mehr so spannend. Der direkte Austausch fehlt, die Spontanität und auch die Abwechslung. Der Lern- und Lebensraum «Hochschule» ist im Moment auf eine Bildschirmfläche reduziert. Der Unterricht hat dadurch mindestens eine Dimension verloren.
Wie meinen Sie das?
Die Didaktik unterscheidet drei Dimensionen – die kognitive, die psychomotorische und die affektive. Das Kognitive, also das abstrakte Denken, kann man online abbilden; bei manuellen Tätigkeiten und bei der Entwicklung von Werten und Haltungen wird es schwieriger. Wenn man so will, wird der Unterricht momentan seiner Sinne beraubt. Es funktioniert, aber langfristig fehlen wichtige Elemente einer praxisnahen Hochschulausbildung.
Was war die grössere Herausforderung bei der Umstellung auf Distanzunterricht: Technik oder Tempo?
Erstaunlicherweise war es nicht die Technik, die klappte gut – unter anderem, weil wir eine hervorragende IT-Abteilung haben. Die grösste Herausforderung für die Dozierenden war der Faktor Zeit. Das komplette Lehrprogramm der Hochschule musste umgestellt werden. Eine Eins-zu-eins-Überführung einer Lehrveranstaltung in ein Videomeeting ist aber nicht sinnvoll. Online-Lehre verlangt nach einer anderen Taktung des Unterrichts, einer, die zur Mediensituation passt. Wie und in welcher Form interagiere ich nun mit den Studierenden? Darauf haben sich erst allmählich Antworten entwickelt.
«Online-Unterricht ist auch Chancengleichheit»
Wie werden die Prüfungen an der Hochschule Luzern in diesem Jahr aussehen?
Die Umstellung der Prüfungen war und bleibt anspruchsvoll. Etablierte Prüfungssettings können nicht einfach ins Digitale übertragen werden. Es muss bei jedem einzelnen Modul geprüft werden, mit welchen Modalitäten wir den neuen Bedingungen gerecht werden. Viele Prüfungen werden durch Hausarbeiten ersetzt oder mündlich abgelegt, einige als schriftliche Prüfung vor Ort oder als schriftliche Open-Book-Prüfung zu Hause, bei der Hilfsmittel erlaubt sind.
Kann man dabei nicht schummeln?
Das kann nie ausgeschlossen werden. Aber zum einen geht die Hochschule grundsätzlich von der Integrität der Studierenden aus. Zum anderen: Wenn Hilfsmittel benutzt werden dürfen, ergeben reine Wissensfragen wenig Sinn. Bei Open-Book-Prüfungen ist ein Denken in anspruchsvolleren Zusammenhängen gefordert, und hier können sich Studierende während einer Prüfung nicht so einfach fremde Hilfe holen.
Hat das einen negativen Einfluss auf den Wert des Abschlusses?
Nein. Für Studierende, die im Studium stehen, ist das aktuelle Semester nur eines von vielen. Wenn wesentliche Inhalte einzelner Module ganz wegfielen, könnten diese auch in späteren Veranstaltungen oder sogar in zusätzlichen Blockwochen nachgeholt werden. Diejenigen, die jetzt ihren Abschluss machen, schreiben ihre Abschlussarbeit unter erschwerten Bedingungen, etwa beim fehlenden spontanen Austausch mit anderen oder dem eingeschränkten Zugang zu Bibliotheken und Praxispartnern. Das erfordert viel Flexibilität. Es ist wohl eher eine Auszeichnung, wenn man unter solchen Herausforderungen abgeschlossen hat.
Hat die Corona-Pandemie also allen den nötigen digitalen Schub gegeben?
Ja. Der digitale Unterricht und der digitale Arbeitsplatz, den wir uns – je nach Einstellung – als utopisches oder dystopisches Zukunftsszenario ausgemalt hatten, war plötzlich da. Aber: Den überdigitalisierten Menschen als Norm zu setzen, halte ich für falsch. Da reden wir uns etwas ein, allenfalls redet uns auch die Technikindustrie etwas ein. Neue Medien werden sich dort etablieren, wo sie einen Zweck erfüllen. Das war schon beim Buchdruck, beim Telefon, beim Radio oder beim Fernsehen so, und es gilt heute für die IT-Technologien. Eine Ideologisierung der Medienentwicklung scheint mir nicht zielführend – das ist eine natürliche, wechselseitig wirkende Evolution von Gesellschaft, Individuum und Medien.
Wo bieten Online-Formate unverhofft Chancen?
Online-Unterricht bietet grundsätzlich die Möglichkeit der Individualisierung. Die neuen Kanäle sprechen mitunter Personen an, die sich bezüglich Arbeitsstil, -zeit- und -ort anders organisieren möchten als eine Mehrheit. Online-Formate können dadurch mehr Personen erreichen. Sie sind auch ein Mittel der Chancengleichheit: Personen, die sich ein Studium vor Ort mit entsprechenden Reise- und Wohnkosten nicht leisten können; Menschen, die sich an einer Hochschule mit ihrem Nimbus der Exklusivität rein physisch nicht wohlfühlen; alleinerziehende Väter, die sich schlicht nicht anders organisieren können – ihnen allen gibt Online-Unterricht die Möglichkeit, am Hochschulunterricht teilzunehmen.
Was bedeutet es für das Berufsbild der Dozierenden, wenn sich die Hochschullehre ins Internet verlagert?
Auch bei Fernhochschulen haben Dozierende eine tragende Funktion. Nur weil das Medium wechselt, ist die Person, die Wissen zusammenstellt, Lernprozesse steuert und Studierende betreut, nicht obsolet. Aber die Digitalisierung bringt für Dozierende einen grundlegenden Rollenwandel mit sich – im englischsprachigen Raum spricht die Hochschuldidaktik davon, dass Dozierende «from the sage on the stage to the guide on the side» würden – vom Weisen auf der Bühne zum Coach am Spielfeldrand. Die Rolle des Dozierenden wird dadurch anspruchsvoller. Er überblickt das aktuelle Fachwissen, begleitet Studierende in komplexen Prozessen, schätzt und ordnet ein.
Welche Bedeutung werden physische Unterrichtsräume in Zukunft haben?
Unterrichtsräume waren lange Zeit alternativlos, und so sehen die Räume in den Hochschulen teilweise auch aus. Studierende mussten in den Hörsaal oder Seminarraum, um sich ihr Wissen abzuholen. Das ist nun anders – das Wissen gibt’s zunehmend auch online. Die Hochschulräume werden deshalb als Orte der physischen Begegnung in Zukunft wichtiger. Sie bieten Momente der gemeinsamen Inspiration, des Experimentierens und Probierens, des Austauschens. Räume werden nun umso mehr dafür konzipiert werden müssen. Die Hochschule Luzern hat hier mit ihren neuen Campusanlagen, die geplant oder schon realisiert sind, ausgezeichnete Voraussetzungen.
Welche Auswirkung wird «Corona» langfristig auf die Hochschulbildung haben?
Die Corona-Pandemie wird der Hochschulbildung den grössten Schub seit der Bologna-Deklaration im Jahr 1999 geben. Digitalisierung in der Lehre war bisher eher ein abstrakter Begriff, nun hat sie mit dem 13. März 2020 gewissermassen ein offizielles «Release-Datum» erhalten. Die aktuellen Erfahrungen werden bei den Dozierenden einen Kreativitätsschub auslösen, bei der Wahl der Medien wird es eine grössere Offenheit geben und dazu die Gewissheit, was technisch machbar ist. Die Barrieren im Kopf sind weg.
Tipps für Studierende von Stefan Jörissen, um auch im Distance Learning am Ball zu bleiben:
1. Richten Sie sich einen guten Arbeitsplatz ein mit ausreichend Licht und einem aufgeräumten Schreibtisch, der nicht ablenkt.
2. Schauen Sie sich am Morgen in den Spiegel und fragen Sie sich, was Sie erreichen möchten: im Leben, im Studium und am heutigen Tag.
3. Holen Sie sich bewusst Motivation. Halten Sie sich den spannenden Beruf vor Augen, den Sie nach dem Studium ausüben möchten, oder planen Sie nach dem Lernen einen Waldlauf als Belohnung.
4. Halten Sie schriftlich fest, was Sie wann machen wollen, und hängen Sie sich das gut sichtbar an die Wand.
5. Suchen Sie sich einen Lernpartner oder eine Lernpartnerin, mit dem/der sie sich regelmässig über Inhalte, Erfolge und Schwierigkeiten austauschen können.