Das Unsichtbare einfangen: die Jagd auf CO2  

Um bis 2050 Netto-Null zu erreichen, braucht die Schweiz neue Wege, um die CO₂-Emissionen zu reduzieren. Sogenanntes Carbon Capture and Storage wird daher immer wichtiger. Dabei wird das Kohlenstoffdioxid noch vor Eintritt in die Atmosphäre abgefangen. HSLU-Ingenieur und Dozent Mirko Kleingries treibt zusammen mit seinem Team diese technische Entwicklung voran. Im Gespräch gibt er Einblicke in seine Arbeit.

Kehrichtverbrennungsanlage mit Schornsteinen und Rauch

Viele Unternehmen möchten ihre CO2-Bilanz verbessern, indem sie Bäume pflanzen und Aufforstungsprojekte unterstützen. Macht das Sinn?

Ja, in gewisser Weise schon. Trotz Massnahmen zum schrittweisen Ausstieg aus fossilen Rohstoffen werden wir in der Schweiz auch 2050 noch rund 10 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr ausstossen. Das müssen wir wieder aus der Atmosphäre herausholen. Wir sprechen dabei von «Carbon Dioxide Removal», kurz CDR. Pflanzen können hierzu einen Beitrag leisten.

Mit Ihrer Forschung setzen Sie aber an einem anderen Punkt an.

Ja, wir wollen vermeiden, dass das entstandene CO2 überhaupt in die Atmosphäre gelangt. Dafür setzen wir direkt an der CO2-Quelle an. Das nennt man dann «Carbon Capture and Storage», kurz CCS. Beispiele für solche Punktquellen sind Zementwerke, Holzverbrennungs- oder Kehrichtanlagen.

Ist dieser Ansatz denn besser, als das CO2 später aus der Atmosphäre zu holen?

Beides ist nötig, aber Carbon Capture and Storage hat einen deutlichen Vorteil: In Produktionsprozessen entsteht CO2 häufig in hoher Konzentration. Daher ist hier die «Jagd» nach CO2 besonders lohnend. Denn ist es erstmal in die Atmosphäre gelangt, verteilt es sich sehr schnell und die Konzentration sinkt frappant. Das macht die Abscheidung aus der Luft viel aufwendiger, langsamer und damit auch teurer.

Mirko Kleingries vor einer Sorptionskolonne im Grossraumlabor an der Hochschule Luzern

Wie lässt sich das CO2 denn ganz konkret bei der Produktion abfangen?

Die grösste Herausforderung besteht darin, dass das CO2 in der Regel in einem Gemisch mit anderen Gasen auftritt. Wir müssen das CO2 also zuerst isolieren. Dies kann dadurch realisiert werden, dass das Gasgemisch durch bestimmte Flüssigkeiten mit unterschiedlichen Temperaturen geführt wird: von kalt zu warm. Dieser Prozess lässt sich am Beispiel einer Mineralwasserflasche illustrieren. Nimmt man sie frisch aus dem Kühlschrank, ist das Wasser kalt und das CO2, die «Kohlensäure», ist gebunden. Wird es wärmer, möchte das CO2 allmählich entweichen. Das hört man dann als Zischen beim Öffnen der Flasche. Ähnlich kann ein CCS-Prozess umgesetzt werden: Zunächst wird das CO2 der Abgase in kalten Flüssigkeiten gebunden, danach wird es durch Aufheizung der Flüssigkeit wieder gelöst und abgetrennt. Das abgetrennte CO2 kann dann langfristig gespeichert oder auch weiterverarbeitet werden.

Das Verfahren benötigt ebenfalls Energie. Entsteht dann nicht noch mehr CO2?

Ja, der Prozess braucht Energie, insbesondere das Erwärmen der Flüssigkeit. Wir arbeiten daran, das Verfahren so effizient wie möglich zu gestalten. Ideal ist beispielsweise die Integration in bestehende Fernwärmenetze oder der Einsatz von Wärmepumpen, die mit wenig Strom viel Wärme liefern. Obwohl CCS energieintensiv ist, wird durch diese CO2-Abscheidung und -Speicherung weitaus weniger CO2 produziert, als damit abgetrennt wird.

Was passiert mit diesem abgetrennten CO2?

Es gibt unterschiedliche Ansätze. Die meisten stecken noch in den Kinderschuhen, sind aber vielversprechend! In der Regel wird das CO₂ verflüssigt, damit es effizient an Orte transportiert werden kann, wo es gut gespeichert werden kann. In einem von einer Schweizer Firma initiierten Projekt in Island wird es in Basaltgestein gepresst und versteinert. Oder bei einer Biogasanlage in Nesselnbach wird das dort abgeschiedene CO2 als Kohlensäure eines namhaften Schweizer Bieres zugeführt. Sehr attraktiv im Sinne der Kreislaufwirtschaft ist es auch, wenn CO₂ in Produkten wie Baustoffen gebunden wird. So gibt es beispielsweise ein Berner Unternehmen, das CO2 dauerhaft in Beton speichert. Dann wird es nicht nur gespeichert, sondern sogar wiederverwendet. Dann spricht man von CCUS, also «Carbon Capture, Utilization and Storage».

Reagenzgläser mit verflüssigtem CO₂

Die Lösung scheint also einfach: Die Industrie stösst weiterhin CO2 aus und wir scheiden es dann ab und speichern es?

So einfach ist es leider nicht. CO₂ abzuscheiden und zu speichern ist in der Regel immer noch deutlich aufwendiger und teurer, als es gar nicht erst zu erzeugen. «Aufwendig» ist hier nicht nur im technischen Sinne gemeint: Neben dem Energiebedarf und der Umweltbilanz geht es hier auch um ökonomische und soziale Aspekte, die nicht ausser Acht gelassen werden dürfen. Emissionen zu reduzieren hat daher noch immer höchste Priorität und Unternehmen sowie Privatpersonen müssen diesbezüglich sensibilisiert. Carbon Capture and Storage soll nur den unvermeidbaren Rest auffangen. Am besten wirkt CCS ohnehin dann, wenn das abzutrennende CO2 «biogen» ist, es also zum Beispiel aus dem Abgas eines Holzheizwerkes abgetrennt wird. Dieses CO2 wurde vorher bei der Photosynthese der Pflanzen der Atmosphäre entnommen. Wird es dann nach der Verbrennung abgetrennt und langfristig gespeichert, ergeben sich Negativemissionen.

Wo steht die Schweiz aktuell beim Einsatz solcher Technologien?

Die Schweizer Forschungs- und Industrielandschaft verfügt über grosse Expertise in komplexen thermischen Prozessen, was die Integration von CCS erleichtert. Mehrere Pilotprojekte zeigen, dass die Technologie bereit ist, auf industrielle Massstäbe skaliert zu werden. Wichtig dabei ist, dass sie bei neuen Industrieanlagen von Anfang an mitgedacht wird. Nachträgliche Integration ist teuer und zeitintensiv, doch die Nachfrage wächst. Für sämtliche 29 Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen ist derzeit in Planung, CO₂ künftig abzutrennen und langfristig zu speichern. Die erste grosse CC-Anlage bei einer Kehrichtverbrennungsanlage in der Schweiz soll 2029 in Betrieb gehen. Ich sage bewusst nur «Carbon Capture», weil derzeit noch unklar ist, wie das CO2 nach der Abtrennung verwendet werden soll, ob nur gespeichert oder auch genutzt. Wahrscheinlich ist ein Szenario, bei dem beides geschieht. Damit kann die Schweiz Massstäbe setzen, die Verbesserung und Verbreitung dieser Technologie vorantreiben sowie Wertschöpfungsschritte vorspuren. Natürlich werden dadurch auch hochwertige Arbeitsplätze geschaffen!

Mit Algen CO₂ reduzieren

Mirko Kleingries ist seit 2013 Dozent an der HLSU im Bereich Thermodynamik und Energieverfahrenstechnik am Institut für Maschinen- und Energietechnik IME. Er ist zudem Co-Founder von ArrheniusDas Unternehmen arbeitet mit Technologien, die CO aus der Luft mithilfe von Mikroalgen bindet (CDR). Die Algen wachsen in speziellen Kultivierungssystemen, nehmen das CO auf und werden nach der Ernte sicher gelagert, sodass das CO langfristig aus der Atmosphäre entfernt wird. Arrhenius ist ein Beispiel dafür, wie naturbasierte Technologien helfen können, CO aktiv zu reduzieren. 

Übersicht der CO₂-Entnahme und -Weiterverwendungsverfahren 

CDR 
Carbon Dioxide Removal 
CCS  
Carbon Capture and Storage 
CCU(S)  
Carbon Capture, Utilization & Storage 
DefinitionEntfernt CO₂ aus der Atmosphäre, speichert es dauerhaft (z. B. geologisch, terrestrisch, in Produkten) Fängt CO₂ an der Emissionsquelle ab (Industrie, Kraftwerke) und speichert es langfristig, meist unterirdisch CCU beschreibt Nutzung des CO2, CCUS umfasst Speicherung des CO2 durch Nutzung nach dem Abscheiden 
Primäres ZielNegative Emissionen: Reduktion der atmosphärischen CO₂-Konzentration Emissionsminimierung: 
verhindern, dass CO₂ überhaupt in die Atmosphäre gelangt 
CO₂ kann verwertet und gespeichert werden (z. B. in Beton) 
VorteileNötig für echte Negativemissionen Effizient für Industrie Macht Abscheidung attraktiver durch Nutzung 
NachteileTeuer und schwer skalierbar Kein Ersatz für Emissionsvermeidung Risiko der «Scheinlösung», wenn CO₂ wieder freigesetzt wird 

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