Jannik Giger wusste genau, warum er Musik studieren wollte. Er wollte seine Kunst als Verbindung von Ton, Film und Sampling weiterentwickeln und lernen, diese in einer Partitur festzuhalten. Den Bachelor in Soundarts der Hochschule der Künste Bern hatte er schon in der Tasche und seine Vision von einer Musik an der Grenze zur Bildenden Kunst im Kopf, aber ihm fehlte es an Handwerk, wie er sagt. Dann stiess er auf den Schweizer Komponisten Dieter Ammann, der auch den Masterstudiengang Komposition an der Hochschule Luzern leitet. «Ammanns umfassender, nicht ausschliesslich akademischer Zugang und sein Verständnis für diverse Musikkosmen schienen zu mir zu passen», erzählt der 37-jährige Giger, der heute als Komponist und Videokünstler in Basel lebt.
Multimediales Multitalent
Zehn Jahre ist es jetzt her, dass Giger Ammann kontaktierte und dieser ihn prompt in sein Haus nach Zofingen einlud. «Das war von Anfang an eher unorthodox», erinnert sich Giger, und man hört das Erstaunen von damals noch heute in seiner Stimme, schliesslich ist Ammann ein renommierter Komponist, der schon zahlreich nationale und internationale Preise erhielt, darunter den Schweizer Musikpreis, den Siemens Kompositionspreis, den Hauptpreis der IBLA-Foundation New York oder den «Young composers in Europe»-Award (Leipzig).
Giger erzählt, er habe gespürt, dass sie beide in ihren Kompositionen Räume öffnen wollen, beide eher komplexe, prägnante und konstruierte Musik kreieren, die extreme Kontraste sucht. Zwar zeigt Gigers Werkliste bis heute Kompositionen mit klassischer Besetzung wie Solostücke, Kammermusik und Orchester. Aber viele seiner Arbeiten sind multimediale Installationen und Videos, die auch schon bei der Biennale für Architektur in Venedig, auf internationalen Festivals und Museen gezeigt wurden. «Ich bin mit meinen Arbeiten sehr breit aufgestellt», sagt Giger. «Auch deshalb kann ich mittlerweile davon leben.» Er schreibe drei bis vier zeitgenössische Werke im Jahr, aber er komme finanziell nur aus, weil er auch Videoarbeiten für Ausstellungen, Filmmusik und Platten produziere und Werkbeiträge erhalte. Auch wenn er multimedial unterwegs sei, bevorzuge er akustische Klänge gegenüber synthetischen – und dafür muss er Partituren schreiben können. «Ich habe meinen Weg gesucht und gefunden, und ich konnte in Luzern immer so komponieren, wie ich wollte», erinnert sich Giger.
Grausame Selbstbefragung
Dass die Studierenden ihre eigene Sprache kennenlernen und in ihren Kompositionen ausleben können, das ist für Dieter Ammann das Credo seiner Lehre und seiner Meisterkurse, die er nicht nur in Luzern, sondern auch in Köln, Weimar oder New York gibt. Als Voraussetzungen für das Studium nennt er mehrere: «Das A und O ist eine gewisse Begabung.» Auch Idealismus gehöre dazu, man dürfe nicht materiell eingestellt sein, weil man das grosse Geld nie verdienen werde. Aber das wichtigste sei, dass der Komponierende fähig und auch bereit ist, sich in sein Inneres zu begeben, sich selbst permanent kritisch zu befragen und so, im Wortsinn, seinen «eigenen Ton» zu entwickeln. Für ihn als Dozenten gehe es darum, herauszufinden, was die Menschen in sich tragen. «Nicht darum, ihnen den eigenen Stil aufzudrängen.» Für ihn selbst sei Komponieren «eine rigorose, manchmal grausame Selbstbefragung». Ein Kunstwerk sei ein Kind seiner Zeit, müsse aber auch etwas zeitloses beinhalten, um gültig zu bleiben. Eine Komponistin oder ein Komponist zeitgenössischer klassischer Musik solle von daher nicht bloss dem Zeitgeist verhaftet, sondern idealerweise eigene Visionen zu formen imstande sein, meint Ammann. «Und man muss bereit sein, sein Leben der Musik zu widmen.»
Oftmals gründe das Komponieren «im vorgängigen eigenen Musizieren». Dieter Ammann begann sogar erst im Alter von 30 Jahren zu komponieren. Vorher studierte er Schulmusik in Luzern und Theorie und Komposition in Basel. Parallel dazu absolvierte er seine Ausbildung an der Swiss Jazz School Bern und spielte als Multiinstrumentalist mit Künstlern wie Eddie Harris oder Udo Lindenberg. Bis ihn das Ensemble für Neue Musik Zürich fragte, ob er ihnen ein Werk schreiben könne. Danach folgte Auftrag auf Auftrag: «Das Komponieren kam immer mehr, gleichzeitig wurde das eigene Konzertieren weniger», sagt Ammann. Es sei für ihn ein Vorteil der Luzerner Ausbildung, dass es viele Berührungspunkte zu anderen Stilen gebe: Der Master in Komposition wird mit den Profilen Klassik und Jazz angeboten, eine gegenseitige Durchmischung der beiden Profile gefördert. Selbst Volksmusikstudierende hat er schon unterrichtet.
Takt für Takt
In den Klassenstunden lässt Dieter Ammann seine Studierenden bisweilen ihre Werke präsentieren. «Dabei merke ich auch, wie sie als Schöpfer funktionieren.» Es sei wichtig, über sein eigenes Werk sprechen, Beweggründe kommunizieren zu können. Dann könne er Rückmeldung geben und weiterhelfen, wenn es hakt. Am Ende sei aber nicht wichtig, wie die Komponierenden zu ihren Werken kommen, wodurch sie sich inspirieren lassen, sei es durch Aussermusikalisches wie etwa Literatur, wissenschaftliche Theoreme, bildende Kunst, Politisches oder ob sie direkt im und am Klang selbst arbeiten. «Das interessiert nur bedingt», sagt Ammann. «Ich betrachte und diskutiere vor allem das künstlerische Resultat.»
Jannik Giger arbeitet mit dem Computer, mit Filmen, mit Zitaten anderer Werke, die er in seine Kompositionen einbaut. Diese Technik treibt er in «Orchester» bis zum Limit: Das Werk besteht komplett aus Samples von Orchesteraufnahmen, die Giger zu einem neuen Werk zusammengeschnitten hat. Ammann hingegen notiert minutiös – er beginnt seine Werke bei Takt Eins und endet lange, lange Zeit später mit dem letzten Takt. «Was einmal notiert ist, wird dann nicht mehr verändert», sagt er, «denn das ist dann jeweils mein Optimum, dem viele Versuche, Reflexionen, Variantenbildungen vorausgegangen sind.» Ammanns «Intimus», wie er selbst sagt, Komponistenkollege Wolfgang Rihm, arbeite ganz anders: «Er komponiert viel mehr und schneller als ich.»
«Im Gehen erfindet der Komponist seine Welt»
Dieter Ammann braucht einen Auftrag für ein Werk, sonst kann er nicht komponieren, wie er sagt. Er ist voller Musik, demonstriert mitten im Gespräch komplizierteste Rhythmen. «Aber das ist Improvisation», sagt er, «das ist flüchtig.» Komponieren sei anders, «im Gehen erfindet der Komponist seine Welt». Diese sollte idealerweise innerlich, mithilfe der eigenen Vorstellungskraft geschaffen werden. Sonst könne es vorkommen, dass man in der Arbeit mit dem Orchester oder dem Ensemble erfahren müsse, dass etwas einfach nicht gehe. Vor allem Künstlerinnen und Künstler, die zu sehr dem Computer vertrauen, passiere das, weil sie schlicht Dinge komponierten, die nicht spielbar seien oder, oft aus Unkenntnis, die Eigenheiten der Instrumente zu wenig berücksichtigten. «Die Maschine hingegen macht alles möglich», sagt Ammann trocken.
Selbstsicher im Leben, selbstsicher in der Musik
Auch Studentin Aregnaz Martirosyan arbeitet besser, wenn sie bereits einen Kompositionsauftrag in der Tasche hat. Die 29-jährige Armenierin macht keinen Hehl daraus, dass sie ehrgeizig ist: «Ich will Erfolg haben», sagt sie, «nicht nur an einem Ort, sondern auf der ganzen Welt.» Noch während ihres Bachelorstudiums in Armenien hörte sie über Freunde von Ammanns Wirken in Luzern und nutzte ein Austauschsemester, um sich ein Bild zu machen. Sie blieb für den Master Komposition. Sie schätzt die Theorieseminare, die sie in Luzern absolvieren konnte, etwa die Analyse wichtiger Werke des 20. und 21. Jahrhunderts, das Seminar zur Kompositionstechnik Bachscher Solowerke oder das für kommerzielle Kompositionen. Auch sie folgt ihrem eigenen Weg und zeigt, dass Ammann lebt, was er predigt: «Er vertraut mir. Ich kann machen, was ich will und was ich fühle. Er setzt mir keine Grenzen. Ich habe von ihm gelernt, selbstsicher nicht nur im Leben, sondern auch in meiner Musik zu sein.»