Eine Kamera und etwas Knetmasse ist manchmal alles, was es braucht, um eine Geschichte zu erzählen. Als Jadwiga Kowalska mit 16 Jahren ihre erste Digitalkamera erhält, besorgt sie sich zwei Kübel Plastilin, formt daraus kleine Figuren und beginnt kurze Trickfilme zu drehen. Zwei Jahrzehnte später hat sie Plastilin und Kamera längst gegen Tuschepinsel und Computer eingetauscht: Die 39-jährige Luzernerin hat sich eine beeindruckende Karriere als preisgekrönte Filmemacherin und Illustratorin aufgebaut.
Jadwiga Kowalskas Vater, ein passionierter Fotograf und Amateurfilmer, legte ihr die Liebe zum Film praktisch in die Wiege. Doch erst nach einem Umweg über den Vorkurs für Gestaltung in Bern und einer Bildhauerlehre macht sie diese Liebe zum Beruf. «Nachdem ich am Vorkurs einigermassen Zeichnen gelernt und in der Lehre dreidimensional gearbeitet hatte, reizte mich der Wechsel in die zeitliche Dimension, in die Bewegung», sagt sie.
Kowalska beginnt ein Bachelor-Studium in Animation an der Hochschule Luzern. Nebenher sammelt sie Erfahrungen als Puppenmacherin für Schweizer Trickfilmproduktionen. Im Studium lernt sie, wie man Geschichten im Animationsfilm erzählt und wie man digitalen Film-Charakteren Leben einhaucht. Aus ihrer Sicht eine logische Fortsetzung ihrer Arbeit mit Skulpturen und Puppen: «Es geht immer ums Modellieren von Figuren.» Ob diese aus Stein, Ton oder einem 3D-Computermodell bestünden, sei nebensächlich.
Respekt fürs Publikum
Ihre neu gewonnen erzählerischen und technischen Fähigkeiten setzt die damalige Studentin in ihrer Abschlussarbeit «Tôt ou tard» um. Im fünfminütigen Animationsfilm bringen die Kapriolen einer Fledermaus und eines Eichhörnchens den Tag-Nacht-Rhythmus ihrer winzigen Welt völlig aus dem Takt. Erst durch das von ihnen gestiftete Chaos entdecken die beiden Tiere, die bisher völlig für sich gelebt haben, einander überhaupt. Eine Freundschaft entsteht.
Mit «Tôt ou tard» gewinnt Kowalska 2009 den Schweizer Filmpreis für den besten Animationsfilm. Der Film kommt gänzlich ohne Dialoge aus. Trotzdem ist es leicht, der Geschichte der beiden sympathischen Tierchen zu folgen. Zu Beginn ihres Studiums sei es ihr noch egal gewesen, ob man ihre Filme verstehe, sagt Kowalska. Sie sei überheblich gewesen. «Aber mir wurde klar, dass mir das Publikum etwas sehr Kostbares schenkt: seine Aufmerksamkeit. Indem ich eine Geschichte so erzähle, dass sie verstanden wird, respektiere ich dieses Geschenk.»
Ein Hase im Wolfspelz
Jadwiga Kowalska ist stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln für ihre Geschichten. Neben ihrer Filmkarriere baut sie sich seit einigen Jahren ein zweites Standbein als Illustratorin auf. In ihrer Master-Abschlussarbeit an der Hochschule Luzern, dem Kinderbuch «Ich bin ein Wolf, sagte Hase» näht sich ein Hase aus lauter Angst ein Wolfskostüm. Und verjagt damit prompt nicht nur den echten Wolf, sondern auch alle seine Freunde.
Kowalska geniesst es, zwischen den Medien hin und her zu wechseln. «Es nimmt mir den Druck, wenn sich ein Bild mal nicht bewegen muss», sagt sie. Die Seitenstruktur von Comics und Büchern ergebe einen ganz anderen Spannungsbogen als ein Animations- oder Spielfilm. Einer, der idealerweise jeweils am Ende einer Doppelseite einen Höhepunkt erreicht – das «Drama des Umblätterns», wie es im Fachjargon heisst.
Das Auto, das aus dem Meer kam
Seit einigen Jahren pendelt die leidenschaftliche Seglerin zwischen ihrer Heimatstadt Luzern, wo ihr Boot ankert, und Fribourg. Dort arbeitet sie in einem spartanisch eingerichteten Atelier an ihrem aktuellen Film «The Car that came back from the Sea». Ein Herzensprojekt, dem sie inzwischen schon fünf Jahre lang nachgeht. Die Geschichte erzählt die Flucht von Jadwiga Kowalskas Eltern aus Polen, nachdem das Militär 1981 das Kriegsrecht verhängt hat. Als Aufhänger dient das titelgebende Auto, eine schrottreife Karre ohne Beifahrertür.
Kowalska führt für «The Car that came back from the Sea» Interviews mit fünf Familienmitgliedern. Fünfmal hört sie leicht unterschiedliche Geschichten über die damaligen Ereignisse. Diese Unschärfe in den Erinnerungen übersetzt sie in einen skizzenhaften Strich. «Es ist erst mein zweiter Schwarz-Weiss-Film. Ich geniesse es, nicht über Farbe nachdenken zu müssen. Das gibt mir die Freiheit, mich auf die Geschichte zu konzentrieren.»
Im Frühjahr 2022 soll der Film endlich fertig werden. Danach will Jadwiga Kowalska erstmal auftanken. Der Verein Städtepartnerschaft Luzern – Chicago ermöglicht ihr ein Atelierstipendium in Chicago. Kowalska erhofft sich von ihrem Trip in die inoffizielle Hauptstadt des Comics und des Cartoons Inspiration für neue Illustrationstechniken, neue Animationsstile, neue Geschichten. Ein Freund im Studium habe ihr einmal scherzhaft gesagt, er bräuchte eigentlich zwei Leben: Eines, in dem er nur neue Geschichten konsumiert und eines, in dem er sie kreiert. «Mir geht es ähnlich. Ich habe in den letzten Jahren viele Geschichten entwickelt. Es wird Zeit, mal wieder selbst in welche einzutauchen.»