Jonas Bamert, die Prüfungen stehen vor der Tür, Corona ist auch noch da. Laufen Ihre Telefone immer noch heiss?
Seit Semesterbeginn erleben wir, wie bereits im letzten Herbst, eine deutliche Zunahme an Beratungsbedarf. Obwohl in der Beratungsstelle zwei Fachpersonen beraten, kann es aktuell zu Wartezeiten von zwei bis drei Wochen kommen. Unser Wunsch ist es eigentlich, innerhalb von zwei Wochen ein Erstgespräch anzubieten, aber im Moment ist das nicht immer möglich. Im Vergleich zu niedergelassenen Praxen ist die Situation aber immer noch komfortabel, dort wartet man aktuell teilweise schon mal drei Monate oder länger auf einen Psychotherapieplatz.
Im ersten Shutdown war es verdächtig ruhig in der Beratungsstelle. Warum war das so?
Letztes Jahr im Frühling war es für die meisten Studierenden oder Mitarbeitenden teilweise ganz ok; etwas Geschwindigkeit aus den Verpflichtungen herausnehmen. Zu Hause zu lernen und zu arbeiten kam für viele einer unverhofften Zwangsentschleunigung gleich. Eine Ausnahme stellten Personen mit Kindern dar und jene, die die kurzfristige Umstellung auf Distanzunterricht bewältigen mussten, wie Dozierende, IT und administratives Personal. Eine Frage, die aber alle umtrieb und uns in eine gewisse Schockstarre versetzte, war: Was passiert hier gerade und wohin führt uns das? Wir haben kollektiv den Atem angehalten und versucht, erstmal irgendwie zurecht zu kommen.
Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Ja. Während des zweiten Shutdowns im Herbst 2020 konnten wir uns vor Anfragen kaum retten und hatten in zwei Monaten rund 300 Beratungsgespräche. Die anhaltenden pandemischen Lebensveränderungen und die Ungewissheit machten den Studierenden und Mitarbeitenden zunehmend zu schaffen. Eine «Corona-Erschöpfung» brach sich regelrecht Bahn.
Mit welchen Sorgen kamen die Klientinnen und Klienten auf Sie zu?
Die immergleiche Alltagssituation ohne Ausblick auf Besserung hat allen zu schaffen gemacht – Studierenden wie Mitarbeitenden. Bei den Mitarbeitenden gab es mehr Ängste um den Job oder familiäre Konflikte. Wenn mehrere Personen eines Haushalts über Monate kaum aus den eigenen vier Wänden kommen – dazu wenig Ausgleich durch Hobbys oder Freundschaftspflege – kann das an die Substanz gehen. Die Resilienz nimmt dann irgendwann ab.
Und die Studierenden? Was machte ihnen zu schaffen?
Sie fühlen sich zermürbt. Die Selbstorganisation im Online-Studium fällt vielen auf Dauer schwer. Erschöpfungssymptome, Konzentrationsschwierigkeiten, Motivationsverlust, Vermeidungsverhalten sind die häufigsten Phänomene. Es fehlen Druck und Sozialkontrolle der Präsenzlehre. Studierende berichteten auch über eine abnehmende Solidarität. Digital können Menschen viel leichter ausgeschlossen oder ignoriert werden als analog. Dem einen wird beispielsweise im WhatsApp-Chat sofort geantwortet, einer anderen gar nicht.
Aber Fälle von Ausgrenzung oder sogar Mobbing gab es sicher schon vorher?
Schon, aber besonders junge Menschen brauchen Rückkopplung und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft. Da die analoge Welt wegfiel, waren und sind sie umso mehr auf das digitale Netzwerk angewiesen. Erfährt man dort viel Ausgrenzung und kann es im analogen Leben nicht ausgleichen, erhöht das den Leidensdruck. Junge Menschen brauchen mehr Resonanz auf die Fragen: Bin ich gut? Werde ich anerkannt? Gehöre ich dazu? Freundschaften unter älteren Erwachsenen sind oft stabiler und brauchen diese Formen der Rückversicherungen weniger.
Was wissen Sie über die Situation ausländischer Studierenden, haben diese sich vermehrt gemeldet?
Natürlich, einige von ihnen hatte es schwer getroffen. Für sie war die Situation ein Schock. Stellen Sie sich vor: Sie kommen in die Schweiz, freuen sich auf Austausch, Stadtleben, in den Ausgang gehen, Kommilitonen kennenlernen. Und dann finden Sie sich isoliert in einem fremden Land im Shutdown wieder. Viele hatten überlegt, in ihre Heimat zurückzugehen. Gleichzeitig haben andere wiederum den Aufenthalt in der Schweiz genossen, weil sie hier sogar mehr Freiheiten als in den Herkunftsländern hatten. Aber generell war die Verunsicherung und das Heimweh in dieser Studierendengruppe recht hoch.
Die Beratungsstelle musste auf Online-Gespräche umstellen. Wie gut hat das funktioniert?
Wir waren gut vorbereitet. Ein Onlineberatungssystems zu etablieren, beispielsweise für Menschen, die nicht vor Ort sein können, war uns schon länger ein Anliegen. Im Sommer 2019 hatten wir damit begonnen, ein sicheres Online-Beratungssystem zu evaluieren und letztlich auch zu beschaffen. Das System und die eigenen Server in Luzern waren exakt auf den März 2020 einsatzbereit. Wenige Tage nach der Einführung musste unsere Beratungsstelle an der Sentimatt definitiv ihre Türen schliessen.
Wie kamen die Klienten und Klientinnen mit dieser neuen Beratungsform zurecht?
Natürlich hatten die meisten im ohnehin schon digitalen Overkill wenig Lust, die Beratungen online durchzuführen. Aber es hat gut funktioniert und wir werden weiterhin Online-Beratungen anbieten. Das Tool hat sich bewährt und den absoluten Stresstest bestanden. Prüfungsangst beispielsweise kann man gut online behandeln. Bei tiefergehenden Sorgen wird das persönliche Gespräch aber immer die bessere Beratungsform sein.
Welchen Satz haben sie in Ihren Gesprächen am häufigsten gehört?
«Ich möchte wieder so sein wie früher, so unbeschwert».
Können Sie als Psychologe das alte Ich zurückgeben?
Nein. Aber darum geht es auch nicht. Man kann nach einem Einschnitt nicht zurück zur alten Persönlichkeit. Es geht darum, die neuen Erfahrungen zu integrieren und eine neue Version von sich selbst zu werden. Aber es ist schwer, das in dieser Situation anzuerkennen. Meine Aufgabe ist es, mögliche Wege aufzuzeigen. Gehen müssen die Betroffenen den Weg selbst. Wenn man etwas für sich selbst entdeckt, hat es eine ganz andere Gültigkeit.
Was nehmen Sie persönlich aus dieser Zeit für Ihre Beratungstätigkeit mit?
Für ein Resümee ist es zu früh. Wir sind noch mittendrin, die Praxen haben nach wie vor riesigen Zulauf. Ich befürchte, der volle Umfang ist noch nicht ausgestanden. Psychische Probleme und Depressionen zeigen sich häufig nicht in Phasen der grössten Anspannung, sondern danach. Also beim Ausatmen, um im anfänglichen Bild zu bleiben.
Haben Sie Tipps für den Alltag, um stabil und motiviert zu bleiben?
Es gibt im Moment viele Plattitüden, von denen ich eher wenig halte. Ich möchte keine allgemeingültigen Ratschläge erteilen. Ich schaue auf jeden einzelnen und biete zugeschnittene individuelle Lösungen an. Selbstfürsorge ist aber ein wichtiges Stichwort. Darum rate ich Betroffenen, frühzeitig zu uns zu kommen und nicht erst mit der letzten Kraft. Es ist im Grunde genommen wie bei einem Notfall im Flugzeug: Zuerst muss ich mir selbst die Atem-Maske anlegen, erst dann kann ich wieder funktionieren und auch für andere da sein.