«Bequemlichkeit wird beim Online-Shopping eine immer wichtigere Rolle spielen»

Ob rasant wachsende Billig-Plattformen wie Temu, steigende Rücksendungen bei Zalando oder der Einsatz von Künstlicher Intelligenz: Der Online-Handel steht vor grossen Umbrüchen. E-Commerce-Experte Prof. Dr. Matthias Schu erklärt, warum Same-Day-Delivery nicht für alle funktioniert und wie Online-Shops Retouren reduzieren wollen.

Eine Frau schaut sich auf dem Handy in einem Onlineshop Kleider an.

Herr Schu, was haben Sie zuletzt online gekauft?

Ein Gartenhäcksler von Bosch bei Galaxus.

Was schätzen Sie als E-Commerce-Experte persönlich am Online-Shopping?

Es ist bequem und spart Zeit, da die Produkte direkt nach Hause geliefert werden. Ausserdem finde ich online oft Dinge, die der Detailhandel vor Ort nicht im Sortiment hat.

Wie hat sich der Online-Handel in den vergangenen Jahren verändert?

Er ist erwachsen geworden. Was früher nur ein zusätzlicher Verkaufskanal im Internet war, ist heute das Herzstück ganzer Unternehmen. Wir erleben dabei eine starke Professionalisierung: Unternehmen automatisieren heute ihre Abläufe und gestalten die Kundenbeziehungen persönlicher. Die Corona-Pandemie hat diesen Wandel in vielen Bereichen zusätzlich stark beschleunigt – zum Vorteil für den Online-Handel.

Die Erwartungen sind insbesondere bei der Liefergeschwindigkeit grösser geworden. Mittlerweile bieten einige Online-Shops «Lieferung am gleichen Tag». Ist das bloss ein Hype oder wollen viele Kundinnen und Kunden ihre Produkte möglichst schnell erhalten?

Lieferung am selben Tag ist kein Massenmarkt, aber ein strategisch wichtiges und weiter wachsendes Nischensegment, das vor allem für Apotheken, Geschenke oder vor allem auch Lebensmittel von Interesse ist. Jüngst hat die Post diesen Service jedoch wieder eingestellt. Es zeigte sich: Wenn Kundinnen und Kunden nicht bereit sind, für diese Bequemlichkeit zu zahlen, wird es wirtschaftlich schwierig.

KI ist im Online-Shopping angekommen und bereits deutlich spürbar.

Inwiefern verändert Künstliche Intelligenz den Online-Handel?

KI ist im Online-Shopping angekommen und bereits deutlich spürbar, beispielsweise bei der Planung von Lieferwegen, der Pflege von Produktdaten, der Erstellung von Werbematerial oder bei der automatischen Preisgestaltung. Auch im Kundendienst sind KI-gestützte Chatbots längst im Einsatz. Kaum verbreitet sind hingegen viele der aktuell gehypten Anwendungen wie virtuelle Einkaufsberater oder komplett automatisch erstellte Webseiten. Die bringen oft noch wenig echten Mehrwert oder Wirkung im Verkauf bringen. Der grösste Nutzen liefert KI aktuell klar in den Prozessen im Hintergrund, also dort, wo Kundinnen und Kunden sie gar nicht sehen.

Jüngst machten Billig-Shopping-Plattformen wie Temu, Shein, Wish oder Aliexpress Schlagzeilen. Über 50 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben im Jahr 2024 mindestens einmal bei einer solchen Plattform bestellt. Wie gut ist der Schweizer Online-Handel in Konkurrenz mit solchen Plattformen aufgestellt?

Die Schweiz hat starke und vertrauenswürdige Unternehmen wie Digitec. Aufgrund der Marktgrösse und der Nicht-EU-Mitgliedschaft geniesst sie in manchen Bereichen einen gewissen Schutz. Allerdings gibt es auch Nachteile: hohe Personalkosten, wenige Möglichkeiten zur Massenproduktion und rechtliche Einschränkungen. Temu zeigt, dass teure Märkte bei einem Preiskampf schnell unter Druck geraten können. Deshalb ist es wichtig, sich von der Konkurrenz abzuheben – zum Beispiel mit gutem Service, nachhaltigen Produkten und Nähe zur Kundschaft.

Wie stark achten Kundinnen und Kunden beim Online-Shopping denn auf Nachhaltigkeit?

Es bleibt ein Kernthema, aber der Fokus hat sich verschoben: weg vom Image, hin zu echten Taten. Kundinnen und Kunden erwarten heute Massnahmen, die tatsächlich eine Wirkung haben, wie den Ausgleich von CO₂, wiederverwendbare Verpackungen oder Angebote, mit denen Produkte ein zweites Leben bekommen. Allerdings ist Nachhaltigkeit nur so lange im Fokus der Kundinnen und Kunden, wie es das Portemonnaie zulässt. Wenn es wirtschaftlich schwierig wird, achten viele weniger darauf.

Rücksendungen sind ein zentraler Kostentreiber, besonders in der Mode, wo Rücksendequoten von 30 bis 50 Prozent üblich sind.

Ein Dauerthema im Online-Handel sind Retouren. Jüngst hat Zalando Kundenkonten gesperrt, deren Rücksendequote zu hoch war. Sind Rücksendungen also ein ungelöstes Problem im E-Commerce?

Absolut. Rücksendungen sind ein zentraler Kostentreiber, besonders in der Mode, wo Rücksendequoten von 30 bis 50 Prozent üblich sind. Zalando geht hier bewusst und auch zu Recht regulierend vor. Allerdings wurde dieses in der Branche seit Jahren übliche Vorgehen in den Medien nun mehr aufgebauscht als nötig. Das Thema wird branchenweit an Bedeutung gewinnen – auch aus Umweltsicht.

Welche Lösungsansätze gibt es, um Rücksendungen zu reduzieren?

Um die Retourenquote zu senken, setzen Onlinehändler zunehmend auf bessere Produktbeschreibungen und eine intelligente Grössenberatung. Gleichzeitig prüfen viele Anbieter, ob sie Kundinnen und Kunden mit einer besonders hohen Rücksendequote Einschränkungen auferlegen oder erneut Versandkosten einführen sollen.

Welche Trends sind im Online-Handel in den kommenden Jahren zu erwarten?

Bequemlichkeit wird eine immer wichtigere Rolle spielen. Einkaufen per Chat, beispielsweise über WhatsApp, und Live-Shopping werden immer beliebter. Live-Shopping verbindet Livestreaming mit Online-Shopping. Dabei präsentieren Händler oder Influencer Produkte live per Video, oft auf Social-Media-Plattformen oder direkt im Online-Shop. Während der Sendung kann das Publikum Fragen stellen und Produkte in Echtzeit sehen, zum Beispiel wie ein Kleid sitzt oder ein Gerät funktioniert. Die Produkte können direkt mit einem Klick gekauft werden. Auch Mitgliedschaften wie Amazon Prime oder Lieferabos sorgen dafür, dass Kundinnen und Kunden treu bleiben.

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