Wie Gesang Menschen mit Demenz hilft

Musiklernen im Alter hat verblüffende Effekte: Es ist gleichzeitig Gedächtnistraining und Sturzprävention. Der Effekt der gemeinsamen Sing-, Instrumenten- oder Rhythmik-Stunden ist besonders gross, wenn diese richtig angeleitet werden. Die entsprechenden Fachpersonen bildet die Hochschule Luzern in der Weiterbildung CAS Musikgeragogik aus.

Die Musikgeragoginnen Christina Volken (li.) und Sabina Furrer (re.) touren mit ihrem Musigmobil durch die Zentralschweiz.

Für Angehörige ist es schwer, mitansehen zu müssen, wenn die eigene Mutter sie demenzbedingt langsam vergisst oder der unternehmungsfreudige Grossvater im Betagtenheim nach und nach seine Selbständigkeit verliert. Angesichts der demografischen Entwicklung benötigen hierzulande immer mehr Menschen im Alter eine Betreuung. Schweizer Alters- und Pflegheime beherbergen pro Jahr rund 150’000 Personen. Dieses Betreuungsangebot bereichert die HSLU mit einer Weiterbildung in Musikgeragogik. Damit ist das Musizieren und Musiklernen für und mit Menschen im Alter gemeint.

Weniger Schwindelgefühle nach Kursbesuch

Ob Instrumentalunterricht mit Seniorinnen und Senioren, angeleitete Sing- und Rhythmikkurse mit Menschen mit Demenz oder musikalische Bewegungsübungen zur Sturzprävention – die Arbeit von Musikgeragoginnen und -geragogen ist vielseitig. Das zeigt das Beispiel von Silvia Fischer. Fünf Jahre ist es her seit ihrer Weiterbildung. Fischer ist gelernte Krankenschwester, absolvierte die Ausbildung zur Instrumentallehrerin. Heute unterrichtet sie Blockflöte an der Musikschule Michelsamt Surental. Pflege, Musik, Vermittlung – als Musikgeragogin verbindet sie sämtliche Bereiche.

Über die Musikschule organisierte sie bereits ein Generationenprojekt, bei dem ihre jungen Schülerinnen und Schülern gemeinsam mit Eltern und Grosseltern musizierten. Auch singt Silvia Fischer alle drei Wochen mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Betagtenzentrums Lindenrain in Triengen. Während der Wintermonate bietet sie Kurse «Musik & Bewegung 60+» an. Sie sagt: «Es ist schön, sich immer auf Neues einzulassen. Und zu sehen, dass meine Arbeit den Menschen etwas bringt.»

Und das tut sie. Fischer erzählt: «Meine Kursteilnehmenden berichten mir über weniger Schwindelgefühle dank der Übungen. Ausserdem seien sie besser geerdet.»

Silvia Fischer: «Es ist schön zu sehen, dass meine Arbeit den Menschen etwas bringt.»
Silvia Fischer: «Es ist schön zu sehen, dass meine Arbeit den Menschen etwas bringt.»

Musikalische Erinnerung trotzt der Demenz

Ursula Zihlmann ist ebenfalls Weiterbildungs-Alumna der Hochschule Luzern. Auch sie hat ursprünglich Pflegefachfrau gelernt, studierte dann aber Sozialarbeit. Auf dem Beruf arbeitete sie 28 Jahren lang. «Eine Laufbahnberatung hat mich schliesslich zu dieser Weiterbildung gebracht.» Heute ist sie selbständig tätige Musikgeragogin und arbeitet in unterschiedlichen Projekten mit. So leitet sie unter anderem Kurse, in denen sie gemeinsam mit demenzerkrankten Menschen singt. Sie ist fasziniert davon, wie tief Musik in unserem Gedächtnis verankert ist. «Da gibt es Teilnehmende, die können kaum sprechen, aber sie führen ganze Stücke auswendig auf», sagt sie. So habe sie erlebt, wie ein Teilnehmer eines ihrer Musikangebote unbedingt «Es wott es Fraueli z’Märit go» singen wollte. «Bei ihm war die Demenz schon fortgeschritten. Doch dann spielten wir das Lied an und er trug Strophe um Strophe vor, er hörte gar nicht mehr auf!»

Wichtige Momente, auch für die Angehörigen. «Beim Singen erlebt man Momente der Freude zusammen», sagt Ursula Zihlmann. Und ergänzt: «Angehörigen treffen sich zudem in diesen Kursen und können ihre Erlebnisse teilen. Dafür sind viele dankbar.»

Ursula Zihlmann: «Beim Singen erlebt man Momente der Freude zusammen.»
Musikgeragogin Ursula Zihlmann: «Beim Singen erlebt man Momente der Freude zusammen.»

Musik als Brücke in die Vergangenheit

Marc Brand hat den CAS Musikgeragogik mitaufgebaut (siehe Infobox). Er forscht seit 2010 zum Thema und ist zudem gemeinsam mit Andrea Kumpe, Leiterin der Weiterbildung am Departement Musik, Co-Präsident der Gesellschaft Musikgeragogik Schweiz.

CAS Musikgeragogik – ein Erfolgsmodell

Seit 2016 bietet die Hochschule Luzern den CAS (Certificate of Advanced Studies) Musikgeragogik an. Als bislang schweizweit einzigartiges, interdisziplinäres Kooperationsmodell zwischen den beiden Departementen Soziale Arbeit und Musik der Hochschule Luzern, richtet sich die Weiterbildung sowohl an Musikerinnen und Musiker als auch an Fachpersonen aus der Kulturarbeit mit älteren Menschen, aus Sozialer Arbeit, Altenhilfe und Pflege sowie Senioreneinrichtungen. Bis heute schlossen rund 60 Personen den CAS erfolgreich ab.

Andrea Kumpe, Leiterin Weiterbildung am Departement Musik, baute die Weiterbildung gemeinsam mit Gabriela von Salis, Dozentin im CAS Musikgeragogik, Marc Brand (ehemaliger Dozent und Forschender am Departement Musik) sowie mit Simone Gretler Heusser und Gabriela Hangartner vom Departement Soziale Arbeit auf.

Das Feld der Musikgeragogik wird am Departement Musik aktuell durch Bastian Hodapp beforscht. Andrea Kumpe (Präsidentin) und Marc Brand (Vize-Präsident) leiten zudem das Präsidium der Gesellschaft Musikgeragogik Schweiz.

Er erklärt: «Spielen wir als Kind oder in der Jugend ein Instrument oder singen, speichern wir das Gelernte tief im Hirn.» Bei Menschen mit demenzieller Erkrankung zeige sich das besonders deutlich. Werden Hirnareale, die für das Gedächtnis verantwortlich sind, beschädigt, übernehmen andere die Erinnerung an die Musik. So verbinden wir Musikstücke mit Emotionen. Durch das Spielen oder Singen kann das Glück nacherlebt werden, das die Lieder früher schon auslösten. So fungiert Musik als Brücke in die Vergangenheit. «Richtig angeleitet schafft Musikgeragogik Freude und damit Lebensqualität für diese Menschen.

«Die Teilnehmenden müssen sich ernst genommen fühlen»

Freude zu vermitteln ist auch das Ziel von Christina Volken und Sabina Furrer mit ihrem «Musigmobil». Die Idee: Ein mobiles Musikangebot, mit dem die Musikgeragoginnen Altersinstitutionen, Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch Gruppen und Einzelpersonen besuchen. Dort spielen sie mit Violine und Gitarre Musikstücke und bringen zusätzlich einen Koffer gefüllt mit Liederheften und diversen Instrumenten mit. «Die Kraft der Lieder und die einzigartigen Momente, die das gemeinsame Musizieren ermöglicht, faszinieren mich», sagt Christina Volken. Sie und Sabina Furrer lernten sich während dem CAS an der Hochschule Luzern kennen, inzwischen sind sie ein eingespieltes Team.

Christina Volken (li.) und Sabina Furrer (re.): «Die Teilnehmenden müssen sich ernst genommen fühlen.»
Christina Volken (li.) und Sabina Furrer (re.): «Die Teilnehmenden müssen sich ernst genommen fühlen.»

Das «Musigmobil» beinhaltet ein breites Angebot, etwa das Jahreszeitensingen oder das Programm «Märchen und Musik». Dabei können Bewohnende der Betagtenzentren an zwei Nachmittagen das Märchen von Hans im Glück musikalisch erleben. Nicht etwa als Konzert, wie Sabina Furrer erklärt: «Die Teilnehmenden werden in die musikalische Darbietung mit einbezogen. Es ist ein gemeinsames Musizieren entlang einer Geschichte.» Neben Instrumenten setzen die Musikgeragoginnen auch Stofftiere ein. Sabina Furrer sagt: «Es ist wichtig, dass es nicht kindlich wirkt. Die Teilnehmenden in den Kursen müssen sich ernst genommen fühlen.» Bei den Teilnehmenden käme das Angebot gut an. Christina Volken sagt: «Gewisse streicheln die Figuren, während sie sie in den Händen halten. Andere möchten sie am Ende am liebsten behalten.»

Ihre Kurse, die sie bis jetzt vor allem in Ebikon und Luzern anbieten, sind stets gut besucht. Das spricht sich herum. «Das Interesse seitens der Institutionen ist spürbar», sagt Christina Volken.

Musiklernen im Alter dank der Veeh-Harfe

Ein beliebtes Hilfsmittel in Musikgeragogikkursen ist die sogenannte Veeh-Harfe. Das Saiteninstrument lässt sich ohne Notenkenntnisse spielen. Dafür wurde eigens eine einfache und deutliche Notenschrift entwickelt. Notenschablonen werden dafür zwischen Saiten und Resonanzkörper geschoben. So ist gemeinsames oder auch selbstständiges Musizieren ohne Vorwissen möglich.

Veeh-Harfen-Erfinder Hermann Veeh spielt auf seinem Instrument.

Langfristig sinken die Kosten

Dieses Interesse zu fördern, dafür setzt sich auch CAS-Mitgründer Marc Brand ein. Leider wirkten für Betagtenzentren zunächst oft die Kosten für ein professionelles Musikgeragogik-Programm abschreckend, sagt er. Gibt es ein entsprechendes Angebot, werde es meistens von Pflegekräften angeleitet, die privat ein Instrument spielen. Brand: «Wechseln diese Mitarbeitenden die Stelle, ist es oft auch das Ende des Angebots.»

Die besondere Qualität der Musikgeragogik liege aber in der gezielten Arbeit mit den Menschen. Dafür braucht es Fachleute und diese kosten etwas.» Allerdings: Wird ein umfassendes Musikgeragogik-Konzept eingeführt, lässt sich der finanzielle Aufwand insgesamt senken. Als Gründe nennt Brand den sinkenden Medikamenteneinsatz und den geringeren Pflegeaufwand.

Es brauche zwar noch Aufklärungsarbeit, sagt Brand, aber insgesamt sieht er die Musikgeragogik auch in der Schweiz auf gutem Weg: «Die Fachrichtung wird immer stärker wahrgenommen, in Betagteninstitutionen sowie bei den Musikschulen wächst das Angebot für Musiklernen im Alter. Das freut mich.»

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