Ob im Gletscher, in den Fluten des Atlantiks oder singend und zeichnend während eines 40-stündigen Schlafentzuges im Schlaflabor der Universität Zürich als künstlerische Forschung zum Thema Nacht – die Künstlerin Charlotte Hug improvisiert am liebsten im Dialog. Dieser kann mit der Natur stattfinden, oder mit anderen Kunstschaffenden, zum Beispiel in China, Südafrika oder Brasilien, oft in interkulturellen Zusammenarbeiten. Zwischen Bratschenbögen entlockt die Künstlerin ihrer Stimme die überraschendsten Töne, die mal klingen wie ein Vogelruf, mal wie ein Zischen, ein Knurren oder Gurren. Dann wieder steigt ihre Stimme glockenrein bis zum höchsten Falsett.
Die eigene Vision, die eigene Stimme
An der Hochschule Luzern unterrichtet Charlotte Hug Improvisation. Aber wie lässt sich das Improvisieren von Musik vermitteln? Das Wichtigste dabei sei das Hören, die eigene Vision, das permanente Suchen danach, was man mit seiner Kunst mitteilen will, sagt Charlotte Hug. «Und noch wichtiger ist es, die Freiheit zu entwickeln, der Musik zu folgen, wo diese hinwill», ergänzt die Künstlerin. Darum sei es ein zentrales Element des Unterrichts, dass die Studierenden sich darüber klar werden, was sie mit einem Publikum teilen wollen. Essenziell sei es auch, die eigene musikalische Stimme zu entwickeln.
Ohne Zuhören kein Dialog
Improvisieren beginnt für Charlotte Hug also bei sich selbst – aber da soll es nicht enden. «Den Studierenden möchte ich zeigen, wie sie lernen zuzuhören, nicht nur anderen Musikerinnen und Musikern, sondern auch den Klängen des Raums oder der Umgebung. Nur so kann man darauf mit der eigenen Stimme antworten», sagt Hug.
Klangsprache mit Pinseln und Farbe
Ein wichtiges Element, das die Musikerin für ihre Arbeit entwickelt hat, ist visuell. Sie nennt diese visuelle Musik «Son-Icons». Es handelt sich dabei um grossformatige, abstrakte Bilder. Beim Zeichnen tritt Hug in einen Dialog mit ihrer Musik. Vor allem aber kommuniziert sie mit anderen über diese Zeichen; sie kreiert Notationen und bewegliche Raumpartituren. Dies für Künstlerinnen und Künstler weltweit, auch für und mit Menschen, die nicht mit der westlichen Tradition der Notenschrift vertraut sind. Die Son-Icons zeichnet Charlotte Hug mit beiden Händen und mit mehreren Stiften gleichzeitig oder mit purem Wasser und grossen Pinseln auf ein spezielles chinesisches Textil. Verdunstet das Wasser, verschwinden die Zeichnungen wieder. Auch im Unterricht helfe die Visualisierung von Musik den Studierenden oft, die Form und Energie der Musik sowie ihre eigenen Ideen fassbarer zu machen.

Raus aus der Übungszelle
Ihre künstlerischen Anliegen führen Hug oft in die Natur, zum Beispiel, wenn sie auf dem Säntis mit Wind und Vögeln kommuniziert, oder wenn sie seit Jahren immer wieder zum Rohnegletscher zurückkehrt, wo sie sein Verschwinden hörbar macht. Viele Studierende finden diese musikalischen Begegnungen mit der Natur spannend. Hier geht es für Charlotte Hug im Unterricht nicht darum, dass die Studierenden ihre Aktionen imitieren, sondern darum, dass sie selbst die Orte in der Natur oder auch in urbanen Räumen finden, die ihrer eigenen Vision entsprechen. Denn nur so können die Studierenden mit dem Ort in Beziehung treten, hören, was er ihnen zu sagen hat, und mit der eigenen Stimme darauf antworten.